Prod'Hom-Berthet: Die örtliche Versammlung und ihre Verantwortlichkeiten (1907)


Zurück zur Übersicht

Aus dem Französischen übersetzt

Das Matthäus-Evangelium stellt bekanntlich Christus als Sohn Davids und Sohn Abrahams vor, als den für Israel verheißenen Messias. Bemerkenswerterweise ist es das einzige Evangelium, das die Versammlung, die Kirche, erwähnt, die dort zum ersten Mal in der Schrift erwähnt wird. Der Herr spricht in Kapitel 16 von ihr als von der Seinigen und als von dem, was Er "bauen" wollte. "Auf diesen Felsen", sagt er - diesen Felsen, den Christus, den Sohn des lebendigen Gottes - "will ich meine Versammlung bauen" (Verse 10-18). Er spricht hier von der Versammlung als Ganzes, während des gesamten Zeitraums zwischen der Herabkunft des Heiligen Geistes zu Pfingsten und Christi Rückkehr auf diese Erde. Es war die endgültige Verwerfung des Messias durch Israel, die den Herrn dazu veranlasste, von der Versammlung zu sprechen; das ist auch der Grund, warum er im selben Kapitel (Vers 20) seine Jünger anweist, niemandem zu sagen, dass er der Christus ist. Die Darstellung seines messianischen Charakters war nun nicht mehr angebracht; Er war verworfen worden. Der Gedanke des Herrn wendet sich daher dem zu, was auf Seine Verwerfung durch Israel folgen sollte, nämlich Seine Versammlung.

Aber es ist nicht weniger bemerkenswert, dass der Herr in demselben Evangelium neben der Erwähnung Seiner universalen Versammlung uns Seine Gedanken über "eine örtliche Versammlung" mitteilt, auch wenn sie nur aus zwei oder drei Personen besteht (18,15-20). Obwohl der Herr noch unter Seiner Verwerfung litt, wie es in Kapitel 16 zum Ausdruck kommt, freute er sich bereits auf den Anbruch jener Zeit, in der Er Seinen "Brüdern" die Beziehung zum Vater, die zu offenbaren Er gekommen war, als ihr gegenwärtiges Teil bekannt machen würde; dann würden auch diese Erlösten in Seinem Namen auf der Erde versammelt sein. Das Herz des Herrn muss in der Tat, wenn wir so sagen dürfen, in gesegneter Weise mit dieser kommenden Zeit beschäftigt gewesen sein, als er die Belehrung über die Gnade gegenüber den kleinen Kindern (18,1-14) und über die Ausübung dieser gleichen Gnade unter den "Brüdern" (15, 16) gab; denn er ergreift die Gelegenheit, in den folgenden Versen von der Versammlung zu sprechen - nicht mehr von der Versammlung als Ganzes, sondern von der örtlichen Versammlung, auch wenn sie in der kleinstmöglichen Zahl zu finden ist. So haben wir aus dem Mund des Herrn selbst die Worte, die uns den Charakter und die Aufgabe einer Versammlung Gottes offenbaren, der der Herr seine Vollmacht verleiht, in Seinem Namen und in Seinem Auftrag zu handeln, so dass die Handlungen dieser Versammlung im Himmel anerkannt werden. Dieser Abschnitt ist daher von größter Bedeutung. Diese Unterweisung wird in den Paulusbriefen nicht wiederholt, jedoch weiterentwickelt und angewendet.

Es ist klar, dass sich der Gedanke des Herrn in Matthäus 18 auf eine christliche Versammlung bezieht und nicht auf eine jüdische Synagoge, an die die Jünger natürlich gedacht haben könnten. Der Herr dachte auch nicht an die universale Versammlung, denn wenn er sagt (Vers 17): "Und wenn er sie nicht hört, so sage es der Versammlung", so meinte er sicher nicht die universale Versammlung, die aus allen Gläubigen besteht. Der Herr hatte eine örtliche Versammlung vor Augen, die alle am Ort lebenden Gläubigen umfassen sollte - und auch heute noch umfasst. Die beiden Brüder, von denen sich einer an dem anderen vergriffen hatte, gehörten beide zu dieser Versammlung; und das ist es, was dem Handeln desjenigen, dessen Pflicht es war, seinen Bruder zu gewinnen, eine so ernste Bedeutung verleiht. Die "ein oder zwei weiteren", die er als letzten Ausweg mitnehmen sollte, bevor er die Sache der Versammlung mitteilte, gehörten zweifellos auch dazu. Dasselbe kann von den "zwei von euch" gesagt werden, die in Vers 19 erwähnt werden.

Der Wert, den der Herr einer solchen Versammlung beimisst, wird uns durch die Tatsache vor Augen geführt, dass, wenn der Bruder, der gegen den anderen gesündigt hatte, sich weigerte, die Versammlung zu hören, alles vorbei war. Es gab keinen vierten Versuch mehr, denn er hatte die Versammlung, in der der Herr anwesend war, und Seinen Namen, zu dem sie versammelt waren, verachtet.

Wir sehen weiter, dass, wenn derjenige, der seinen Bruder zu gewinnen suchte, nach seiner Weigerung, die Versammlung zu hören, noch immer aus Mitleid seine Beziehungen zu ihm fortgesetzt hätte, er gegen den Willen des Herrn gehandelt hätte und seinerseits die Versammlung in ihrem wahren Charakter, wie von dem Herrn angedeutet, ignoriert und beiseite geschoben hätte. Trotz all des Leids, das sein Herz erleiden könnte, war dieser Bruder verpflichtet, dem Gebot des Herrn zu gehorchen: "… sei er dir wie der Heide und der Zöllner."

Beachten wir auch die Ernsthaftigkeit eines jeden Beschlusses der Versammlung: „Was irgend ihr auf der Erde binden werdet, wird im Himmel gebunden sein" (Vers 18). Die Versammlung leitet ihre Autorität von dem Herrn ab, den sie anerkennt; sie wird von Seiner Autorität regiert, und sie entscheidet oder verwaltet innerhalb der Grenzen und gemäß der Befugnisse, die Er ihr übertragen hat, so dass das, was auf Erden gebunden oder gelöst wird, auch im Himmel gebunden oder gelöst wird. Die Versammlung bindet und löst nichts im Himmel; aber ihre Handlungen auf Erden werden im Himmel als so getan angesehen und sind folglich von denen, die die Gegenwart des Herrn in ihrer Mitte anerkennen, als so getan zu betrachten.

In Kapitel 16,10 sehen wir eine weitere Vollmacht, nämlich die, die der Herr dem Petrus verleiht, als er ihm die Schlüssel des Reiches der Himmel übergibt. Kraft dieser ihm persönlich verliehenen Vollmacht wurde das, was Petrus auf der Erde gebunden oder gelöst hatte, auch im Himmel gebunden oder gelöst. Wir haben ein Beispiel dafür, als Petrus in Cäsarea die Tür für die Nationen öffnete und sie auf den Namen des Herrn Jesus taufen ließ, nachdem sie den Heiligen Geist empfangen hatten (Apg 10). Sie wurden wahrhaftig von ihrem früheren Zustand befreit, und dies wurde sicherlich im Himmel bestätigt.

Damals gab es in der Versammlung eine apostolische Autorität, die vom Herrn in Bezug auf die Angelegenheiten des "Reiches" und der menschlichen Leiber verliehen worden war, wie im Fall von Ananias und Sapphira. So spricht Paulus am Ende seines zweiten Briefes an die Korinther von der Vollmacht, die der Herr ihm "zur Auferbauung und nicht zum Verderben" gegeben hatte (2 Kor 13,10). Eine ähnliche, aber nicht dieselbe Autorität, die sich auf die geistlichen Beziehungen auswirkt, hat der Herr den zwei oder drei, die in seinem Namen versammelt sind (Kapitel 18), aufgrund Seiner Anwesenheit in ihrer Mitte gegeben;

aber wir dürfen die verwaltungsmäßige Seite nicht aus den Augen verlieren, nämlich, dass die Versammlung für das, was sie getan hat, verantwortlich gemacht wird.

In der apostolischen Zeit gab es also zwei Autoritäten: die der Versammlung und die der Apostel. Seit dem Weggang der letzteren besteht allein die Verantwortung der "zwei oder drei", die im Namen des Herrn Jesus Christus versammelt sind, und sie wird bis zu seiner Wiederkunft bestehen bleiben.

Der erste Korintherbrief zeigt uns, dass die Autorität der Apostel und die der Versammlung sich nicht gegenseitig beeinträchtigten, sondern dass jede ihren eigenen Bereich hatte. Der Apostel konnte in eigener Verantwortung die Versammlung leiten und anregen oder sie zur Erfüllung ihrer Aufgaben drängen; aber es war die Versammlung, die entschied und handelte. Paulus handelt in Ausübung seiner apostolischen Autorität nicht anstelle und für die Versammlung, wenn es um einen Bösen geht (1 Kor 5). Er zeigt mit Bestimmtheit, dass er als Apostel die Macht hatte, dem Satan zu überliefern (3-5); und das hat er bei anderen Gelegenheiten getan (1 Tim 1,20). Hier erklärt er sein Urteil, dass ein solches Handeln in diesem Fall tatsächlich anwendbar war, "zum Verderben des Fleisches", aber dieses apostolische Urteil sollte die Versammlung in keiner Weise von der Verantwortung entbinden, ihre Pflicht innerhalb der vom Herrn vorgeschriebenen Grenzen zu erfüllen. Anstatt für sie zu handeln, regt Paulus das Gewissen der Korinther an, um sie ihre eigene Verantwortung als Versammlung spüren zu lassen. Als Apostel hatte er für sich selbst geurteilt, "einen solchen dem Satan zu überliefern"; die Versammlung hatte etwas ganz anderes zu tun, nämlich den Bösen "aus ihrer Mitte“ hinaus zu tun.

Das ist die Vorgehensweise eines Apostels gegenüber einer Versammlung; er ermahnt, er versucht, ihr Gewissen zu wecken, und zeigt ihr ihre Verantwortung. Er erkennt jedoch die Zuständigkeit und Autorität an, die sie hat, um den Bösen hinauszutun, und zwar so sehr, dass er später, als er die Korinther auffordert, ihre Liebe zu demselben Mann zu erwidern (2 Kor 5-11), ihm nicht den Titel "Bruder" gibt, bevor die Versammlung ihn nicht wieder aufgenommen hat. In dieser Erwartung spricht Paulus immer noch von ihm als "einem solchen".

Beachten wir einen weiteren Punkt, der das Gesagte bestätigt. Eine Versammlung Gottes wird durch den in ihrer Mitte befindlichen Tisch des Herrn als eine solche erkannt. Eine Versammlung von Christen ohne den Tisch des Herrn stellt keine "Versammlung" dar.

Die Autorität des Herrn für die Verwaltung unter den Versammelten um den Tisch, steht in Verbindung mit Seinem Gedächtnismahl. Ferner ist der Tisch des Herrn, der in den verschiedenen Versammlungen Gottes ausgebreitet wird, das, was ihre gemeinsame Verantwortung begründet und beweist, denn sie bekennen sich zur Unterordnung unter die Autorität desselben Herrn. Schließlich gäbe es ohne den Tisch des Herrn keine Zucht; denn es gäbe nichts, was offenbart, dass sie an Seinem Namen festhalten, zu dem sie dem Bekenntnis nach versammelt sind.

1 Kor 10,17 zeigt uns, dass die Wahrheit der Einheit des Leibes Christi auf Erden am Tisch des Herrn zum Ausdruck kommt. "Denn ein Brot, ein Leib sind wir, die Vielen, denn wir alle nehmen teil an dem einen Brot". "Wir", die Glieder des Leibes, die "vielen", sind alle Glieder des "einen Leibes", und das wird durch das Essen des gebrochenen Brotes zum Gedenken an den Tod des Herrn zum Ausdruck gebracht. Auf dieser Grundlage ist der Tisch ausgebreitet. Es gibt nur ein einziges Brot, an dem alle teilnehmen, wodurch die Einheit des Leibes Christi auf Erden praktisch zum Ausdruck gebracht wird.

Der Tisch ist der Tisch des Herrn, nicht der der Gläubigen. Der Herr allein hat Autorität an Seinem eigenen Tische. Die Heiligen sind dort als Glieder des Leibes versammelt, auf dass sie, indem sie Seinen Tod verkündigen und Seiner gedenken, gleichzeitig die Einheit Seines Leibes auf Erden durch dieses Brechen des Brotes untereinander zum Ausdruck bringen können. Auch deshalb ist es die Aufgabe jeder Versammlung Gottes, darüber zu wachen, dass die Rechte des Herrn über Seinen eigenen Tisch gewahrt werden.

Es kann ebenso wenig verschiedene Arten von Versammlungen Gottes geben, wie es zwei Leiber Christi auf Erden geben kann.

Aus demselben Grund ist es unmöglich, dass es viele unabhängige "Tische des Herrn" gibt. Wie wir gesehen haben, gibt es nur "den Tisch des Herrn" (1Kor 10,21), der die Einheit des Leibes ausdrückt (Vers 17).

Indem die Glieder des Leibes gemeinsam das Brot brechen, bringen sie die Einheit des Leibes zum Ausdruck, und es gibt keine andere biblische Art, das Brot zu brechen. Jeder Tisch, der ohne diesen Grundsatz ausgebreitet wird, ist nicht "der Tisch des Herrn". Es ist ein Tisch der Menschen, die - ob absichtlich oder nicht - Unabhängigkeit in Bezug auf dieses biblische Prinzip zum Ausdruck bringen.

Dies sollte von jedem Glied des Leibes Christi ernsthaft bedacht werden. Wir erkennen nicht genügend den Ernst der Tatsache, dass ein unabhängiger Tisch eine Verleugnung der Einheit des Leibes ist, und wir berücksichtigen auch nicht genug die Rechte des Herrn über Seinen eigenen Tisch und Sein eigenes Abendmahl. Die Kinder Gottes sind "Glieder des Leibes Christi" und können nicht nach Belieben über das Abendmahl des Herrn verfügen; wenn sie das Abendmahl unter sich einnehmen, ist es daher notwendig, dass diese kollektive Handlung zugleich Ausdruck der Einheit des Leibes ist, sonst könnte sie nicht zu Recht "Tisch des Herrn" genannt werden.

Dieser Boden des Zeugnisses von der Einheit des Leibes ist folglich der der gemeinsamen Verantwortung aller Versammlungen Gottes untereinander. Wenn, wie wir gesehen haben, die Handlungen einer Versammlung Gottes im Himmel bestätigt werden, sollten sie auch in allen Versammlungen Gottes so anerkannt werden, die zusammen nicht eine Konföderation von Versammlungen, sondern den Leib Christi bilden.1

Nehmen wir für einen Augenblick an, dass es fünftausend Versammlungen Gottes auf der Erde gibt und dass nach Gottes Gedanken alle Kinder Gottes in der Welt in diesen Versammlungen zu finden sind: Nachdem der Herr der örtlichen Versammlung seine Autorität gegeben hat, besitzt jede dieser Versammlungen die Kompetenz, ihre Verantwortung in der Verwaltung auszuführen. Der Herr ist Herr über sie alle: "Ein Herr, ein Glaube, eine Taufe" (Epheser 4,5). Der Geist wirkt und lenkt in jeder Versammlung und ist "ein Geist". Die Pflichten, die geistlichen Fähigkeiten und die Verantwortung sind in jeder Versammlung lokalisiert, aber die gemeinsame Verantwortung ist universal, so dass die Handlungen einer jeden dieser fünftausend Versammlungen von allen anderen akzeptiert werden. So weit ist alles einfach. Wenn nun aber eine der fünftausend Versammlungen durch die Einmischung des Feindes (wie es leider geschehen ist) sich weigert, die ernsthafte Handlung einer anderen anzunehmen, und auf dieser Weigerung beharrt, dann wird die widerspenstige Versammlung sicherlich sofort schismatisch und sektiererisch. Sie büßt ihren Charakter als Versammlung Gottes ein. Sie schließt sich selbst aus der Gemeinschaft mit den übrigen Fünftausend aus, bricht die Verbindung mit ihnen ab und trennt sich von ihnen. Wenn nun ein Mensch aus dieser Versammlung in einer der anderen, die noch in Gemeinschaft sind, auftaucht und erwartet, als Glied des Leibes Christi anerkannt zu werden, und sich darauf beruft, dass es in seinem Wandel nichts gibt, was sittlich zur Zucht führen würde, sollte er dann aufgenommen werden? Nein; denn solange er nicht das Gegenteil beweisen kann, hat er stillschweigend das Handeln der Versammlung, der er angehört, gebilligt, das im Widerspruch zur Autorität des Herrn steht. Diesen Menschen so aufzunehmen, wie er ist, hieße, die Rebellion der Versammlung, aus der er kommt, zu akzeptieren, und die Versammlung, die ihn aufnimmt, würde ihrerseits diesen Widerspruch gutheißen. Wenn aber eine solche Person die Pflicht erkennen würde, sich von seiner erklärten Zugehörigkeit zu der sektiererischen Gemeinschaft zu reinigen und sich persönlich von seiner Schuld zu befreien, dann hätte er ein Recht auf seinen Platz in irgendeiner der anderen Versammlungen als Glied des Leibes Christi.

Wir haben angenommen, dass alle Kinder Gottes auf Erden in diesen fünftausend Versammlungen zu finden sind. Das ist heute auf Grund des Verfalls nicht mehr gegeben. Aber das Prinzip ist nicht weniger wahr und gilt für alle Versammlungen derer, die im Namen des Herrn Jesus versammelt sind und die Wahrheit des einen Leibes Christi und ihre individuelle Verantwortung in Verbindung mit diesem Leib anerkennen.

Wir könnten diese Seiten nicht besser abschließen, als mit einer Empfehlung der Traktate von J.N.D. mit den Titeln „Über kirchliche Unabhängigkeit" und „Ist der eine Leib die Grundlage des Zusammenkommens", die beide in Verbindung mit seinen „Briefen" (Bd. 3) aus den Jahren 1879-81 gelesen werden sollten. Darin wird das Thema, mit dem wir uns gerade beschäftigt haben, ausführlicher behandeln.


Zurück zur Übersicht