Henri Rossier- Johannes der Täufer


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I. Das Volk und der Überrest

II. Die Geburt Johannes des Täufers

III. Johannes der Täufer in der Wüste

IV. Johannes als Prophet


I. Das Volk und der Überrest

(Lukas 1—3.)

Der Leser wolle den Titel dieser kleinen Betrachtung nicht missverstehen. Der Gegenstand derselben ist weniger Johannes der Täufer als Christus. Wie wichtig und interessant die Persönlichkeit des Johannes auch immerhin sein mag, so kann er doch nur dem Gemälde als Hintergrund dienen, welches Den darzustellen bestimmt ist, der größer war als er; und wahrlich, die Worte und das ganze Leben des großen Propheten berechtigen uns zu der Überzeugung, dass er selbst seine Geschichte nicht anders geschrieben haben würde, als zur Verherrlichung der Person Dessen, dem er als Vorläufer diente.

Das erste Kapitel des Evangeliums Lukas lässt uns in sehr lebendiger Weise einen Blick in die Verhältnisse Israels tun, wie sie der Vorläufer des Herrn fand, und wie sie der Offenbarung des Messias vorangingen. Eine große Veränderung war seit den Tagen Nehemias in den Umständen Israels eingetreten: Das letzte der vier großen Weltreiche hatte das Volk unterjocht; aber in moralischer Beziehung unterschied sich der Zustand desselben wenig von dem Bilde, welches der Prophet Maleachi 450 Jahre vor Christi Geburt entworfen hat. Israel stand nicht mehr in offener Empörung Jehova gegenüber. Die Götzen waren aus dem „gefegten und geschmückten" Hause verschwunden. Der Feigenbaum war mit den Blättern eines in die Augen fallenden religiösen Bekenntnisses bedeckt; aber unter diesem Scheine verbarg sich eine völlige Unfruchtbarkeit. Gleichgültigkeit und Gefühllosigkeit, zwei Dinge, die noch schlimmer sind als offenbarer Hass, waren tief im Herzen des Volkes vorhanden. Einer der Charakterzüge des Abfalls ist der, dass man es nicht mehr für der Mühe wert hält, an Gott zu denken und sich an Ihn zu kehren; und schon heute stehen die Menschen im Begriff, Ihn gleichsam als einen veralteten Gott beiseite zu schieben. Und wenn dereinst die Augen des treuen Überrests von Israel sich über Christus öffnen werden, so wird gerade die Erkenntnis, dass sie an dem „Manne der Schmerzen" mit Gleichgültigkeit vorübergegangen sind und Ihn „für nichts achten" konnten, (Jes. 53) sie dahin führen, ihre Angesichter in bitterer Reue in den Staub zu beugen.

So stand es schon zu der Zeit Maleachis zwischen Israel und Gott. Wenn Jehova ihnen zurief: „Ich habe euch geliebt", so antworteten sie: „Worin hast Du uns geliebt?" Denn sie kannten das Herz Gottes nicht. Und wenn Er zu den Priestern sagte: „Ihr seid Verächter meines Namens," so entgegneten sie: „Worin haben wir Deinen Namen verachtet?" So verblendet waren sie über ihren Zustand, so blind über ihre Übertretungen. Sie brachten unreines Brot auf den Tisch Jehovas und opferten Ihm lahme, blinde und kranke Tiere, weil sie, trotz aller äußeren religiösen Formen, in ihrem Herzen und Leben von Gott getrennt waren und sich kein Gewissen aus der Unehre machten, welche sie Ihm antaten. (Mal. 1.)

Eine solche Religion muss schließlich, mag es nun kurz oder lang dauern, denen, die sie ausüben, überflüssig erscheinen. Wozu ist sie nütze? „Welche Mühsal!" sagten die Juden in den Tagen Maleachis. (Mal. 1, 13.) Und so wird das Herz des bloßen Bekenners stets sprechen; und wenn er auch nicht, infolge der religiösen Mühsal, selbst wieder ein Götzendiener wird, so kehrt er doch bald zu der götzendienerischen Welt zurück, und verbindet sich mit ihr; er „vermählt sich", wie der Prophet sagt, „mit der Tochter eines fremden Gottes" und wird ein Fleisch mit ihr in den Augen des rächenden Gottes, der an beiden Gericht üben wird. (Vergl. Mal. 2, 11—16.)

Hier liegt auch für die Christen eine große Gefahr in diesen Tagen des Verfalls. Wie einst Asaph, so sind auch sie geneigt, die Gottlosen wegen ihres Wohlergehens zu beneiden und sich zu ihnen zu wenden. Aber dann lesen wir: „Wasser in Fülle wird von ihnen geschlürft", d. h. es werden Zeiten der Trübsal für sie kommen im Gegensatz zu der zunehmenden Wohlfahrt der Welt. (Pf. 73.)

Indes gibt es für den Gläubigen noch eine zweite Gefahr, feiner und täuschender als die eben genannte; dieselbe besteht darin, dass er sich ab- sondert in dem Maße, wie er die allgemeine Gleichgültigkeit und Weltförmigkeit unter dem Volke Gottes zunehmen sieht. Diese Neigung ist umso gefährlicher, als sie den Schein der Richtigkeit für sich hat; sie ist aber den Gedanken Gottes für die Deinigen vollständig entgegen. Gerade im Blick auf solche Zeiten des Verfalls sagt der Prophet: „Da unterredeten sich, die Jehova fürchteten, miteinander." (Mal. 3, 16.) Der Verfall trennt und vereinzelt nicht die Gottesfürchtigen, sondern treibt sie vielmehr an, sich zu vereinigen, wie es in Pf. 119, 63 heißt: „Ich bin der Gefährte aller, die Dich fürchten." So ist es stets in den traurigen Zeiten der Geschichte des Volkes Gottes gewesen. So war es bei den jungen Zeugen in der babylonischen Gefangenschaft; (Dan. 2, 17) so ist es heute in den gefährlichen Zeiten des Endes, (2. Tim. 2, 22) und so war es in den trüben Stunden, welche der Kreuzigung des Herrn folgten, als die noch unwissenden Jünger auf dem Wege nach Emmaus miteinander redeten; und wir sehen dasselbe Wort in einer auffallenden Weise in den ersten Kapiteln des Evangeliums Lukas verwirklicht.

„Da unterredeten sich, die Jehova fürchteten, miteinander", das ist die göttliche Hilfsquelle für die Tage des Verfalls. Inmitten der dürren Wüste eines leblosen Bekenntnisses sehen wir jene wenigen Getreuen einander aufsuchen, sich finden und sich miteinander unterhalten. Maria und Elisabeth reden zu einander; Zacharias und seine Nachbarn unterhalten sich von diesen Dingen; die Hirten verbreiten sie, Simeon verkündigt sie, und Hanna spricht von ihnen „zu allen, die auf Erlösung warteten in Jerusalem." Und es gibt, lasst es uns wohl beachten, für alle diese Getreuen nur einen Gegenstand der Unterhaltung, und das ist „der Trost Israels", es ist Christus, der Messias, die Person des Heilandes. Eine solche Unterhaltung gefällt Gott wohl; Er achtet darauf und leiht ihr Sein Ohr. Er schreibt diese Dinge in ein „Gedenkbuch", in ein besonderes Buch. Nichts ist angenehmer vor Gott als Herzen, welche Seinen vielgeliebten Sohn hochschätzen. Lieber Leser! Gott nimmt Kenntnis von dem Werte, den Jesus für dich und mich hat. Diejenigen, welche Christus in dieser Zeit Seiner Verwerfung hochschätzen, werden dafür an dem kommenden Tage, dem Tage der Herrlichkeit, die besondere Anerkennung Gottes finden: „Sie werden mir, spricht Jehova der Heerscharen, an dem Tage, den ich machen werde, zum Eigentum sein." (Mal. 3, 17.) Ist eine solche Verheißung nicht dazu angetan, unsere Herzen zu ermutigen?

„Sie unterredeten sich miteinander." Diese Beschäftigung des Gläubigen verband sich mit den einfachsten Pflichten des täglichen Lebens: Zacharias erfüllte seinen priesterlichen Dienst, Elisabeth war auf dem Felde, Maria auf der Reise, und die Hirten hüteten ihre Herden. Sie verband sich selbst mit der scheinbaren Untätigkeit eines in Jerusalem wohnenden Simeon, sowie einer beinahe 100-jährigen, vom Alter gebeugten Hanna, die im Tempel zurückgezogen lebte, aber den köstlichsten Teil ihrer Tätigkeit unversehrt erhielt, nämlich den verborgenen Umgang mit Gott, bei Tag und bei Nacht. Doch welche Frische und Freude erregte die Person Christi in den gegenseitigen Beziehungen dieser Gläubigen: die Herzen strömten über, und die Unterhaltung verwandelte sich in Anbetung! So verwirklichen auch diejenigen, welche in solcher Weise miteinander reden, notwendig, was der Gottesdienst ist. (Luk. 1, 46. 48; 2, 29.)

Zwei Botschaften waren durch den Engel Gabriel gebracht worden; die eine betraf Johannes den Täufer, die andere Jesus. Diese, beiden Botschaften bringen in dem Munde derer, an welche sie gerichtet sind, Lob und Dank hervor; aber schon vor seiner Geburt tritt Johannes der Täufer, wie er es immer tun wird, vor dem Herrn zurück, um dem allgemeinen Lobliede Platz zu machen, das von den Lippen aller Gläubigen rund um dieses Kindlein her emporsteigt.

Wen preist 'Elisabeth? Nicht ihren Sohn, sondern den Herrn. Und obwohl Zacharias den herrlichen Auftrag seines Kindes, das eben geboren war, ankündigte, so redete er doch nur davon, um den Herrn, den Gott Israels, das Horn des Heils, den Christus, den Allerhöchsten zu preisen. So ist es stets mit den wahren Zeugen. Die ihnen von Gott geschenkten Segnungen werden für sie nur eine Veranlassung, ihr Lob zu Dem emporsteigen zu lassen, der die Quelle und der Mittelpunkt derselben ist.

Die Umstände, welche die erste Ankunft des Heilandes begleiteten und derselben vorangingen, scheinen mir in mancher Beziehung auf die jetzige Zeit anwendbar zu sein. Wie schon damals, so organisiert (vergl. Luk. 3, 1. 2) sich auch jetzt die Welt mehr und mehr, und sucht in ihren Einrichtungen selbst einen Grund der Sicherheit; wie damals, so herrscht auch jetzt unter weltlicher Leitung eine überlieferte, orthodoxe, gleichgültige und selbstgerechte Religion, die reif zum Abfall ist; wie damals, so blühen auch jetzt die Sekten, gleich den vernunftgläubigen Sadduzäern - oder den Herodianern, welche das herrschende System, unter welchem sie standen, für vortrefflich erklärten; wie damals, so steht auch jetzt die Ankunft oder vielmehr die Wiederkunft des Herrn unmittelbar bevor.

Bringt aber diese frohe Botschaft heutzutage in den Herzen der Gläubigen dieselben Früchte hervor wie damals? Ach, möchte in unsere Herzen auch jene Frische der Hoffnung sich kundgeben; möchten sie erhellt sein von jenen göttlichen Strahlen des Morgensterns, der für den Glauben in dem Glanze der ersten Morgenröte erscheint, der die Herrlichkeit einführt, und dessen Anblick das Herz mit unaussprechlichen Gefühlen des Lobes und der Anbetung erfüllt! Lieber Leser, wenn wir Ihn erwarten, so werden wir „uns miteinander unterreden" bis zu dem Tage der Herrlichkeit, wo wir dann für immer und ewig das besondere Eigentum des Kommenden sein werden.

II. Die Geburt Johannes des Täufers

(Luk. 1, 15 ff.)

Der Engel Gabriel wurde, wie wir gesehen haben, beauftragt, zwei gute Botschaften zu bringen, und zwar die eine an Zacharias, den Priester, die andere an Maria von. Nazareth; jedoch enthalten die Umstände und die Tragweite dieser beiden Botschaften mehr Gegensätzliches als Ähnliches. Zacharias und sein Weib waren beide gerecht vor Gott und wandelten untadelig in allen Geboten und Satzungen des Herrn; und doch waren beide in ihren Tagen weit vorgerückt, und Elisabeth war unfruchtbar. Dürfen wir nicht in ihnen das Bild des frommen Israel unter dem Gesetz erblicken, sowie der Unfähigkeit des letzteren, selbst in dem wiedergeborenen Menschen Frucht hervorzubringen?

Ebensowenig wie Frucht, brachte das Gesetz auch Vertrautheit mit Gott hervor; denn sobald Zacharias, dieser Mann von musterhafter Frömmigkeit, den Engel erblickte, ward er bestürzt, und Furcht überfiel ihn. Schließlich bewirkte das Gesetz auch kein Vertrauen. Das vermag allein die Gnade. Der Priester unter dem Gesetz ist ungläubig gegenüber der Botschaft der Gnade, welche Gabriel ihm überbringt (V. 20); auch verstummt dieser Vertreter Israels bis zu dem Tage, an welchem die göttliche Verheißung ihre gnädige Erfüllung findet, und er, wie der jüdische Überrest in späteren Tagen, den Urheber seines Heils Preisen kann.

Maria dagegen ist nicht nur eine fromme, sondern auch eine demütige und einfältige Seele, ein Gegen st and der Gnade, aber nicht eine Vertreterin des Gesetzes. „Du hast Gnade gefunden bei Gott," sagt ihr der Engel. Sie ist unterwürfig: „Siehe, die Magd des Herrn"; und sie vertraut völlig dem Worte Gottes, denn sie fügt hinzu: „Es geschehe mir nach deinem Worte." (Luk. 1, 30. 38.)

Werfen wir jetzt einen Blick auf den Gegensatz zwischen den beiden Botschaften. Johannes sollte „groß sein vor dem Herrn"; von Jesu sagt der Engel: „dieser wird groß sein." Wir werden hierauf später noch einmal zurückkommen. Die ganze Größe Johannes des Täufers hing von der Person Dessen ab, dem er als Herold dienen sollte, während Jesus in sich und durch sich selbst groß war. — Bei Sonnenaufgang sehe ich von meinem Schreibpulte aus den Schatten eines Kastanienbaumes riesenhafte Verhältnisse annehmen; allein dieser Schatten ist nicht das Bild von der Größe des Baumes, sondern er zeugt vielmehr von dem Aufgang und der Pracht der Sonne. Gerade so war es mit Johannes; er war groß, weil er der Vorbote Dessen sein durfte, von welchem der Engel sagte: „Dieser wird groß sein und Sohn des Höchsten genannt werden; und der Herr, Gott, wird Ihm den Thron Seines Vaters David geben, und Er wird über das Haus Jakobs herrschen in die Zeitalter, und Seines Reiches wird kein Ende sein." (Luk. 1, 32. 33.)

Indessen drücken die Worte Gabriels: „Er wird Sproß sein vor dem Herrn," nicht alles aus, was den Täufer charakterisieren sollte; denn er fügt noch hinzu: „Weder Wein noch starkes Getränk wird er trinken." Das ist das Nasiräertum, wenigstens dessen erstes Kennzeichen. Nur als Nasiräer konnte Johannes vor dem Herrn groß sein. Wie wir aus 4. Mose 6 ersehen, bestand das Nasiräat darin, dass man sich Jehova weihte, sich für Ihn absonderte. Es hatte, drei besondere Kennzeichen. Erstens enthielt sich der Nasiräer des Weines und der starken Getränke; zweitens ließ er das Haar seines Hauptes wachsen; und drittens kam er mit keinem Toten in Berührung.

Er enthielt sich des Weines, das Sinnbild der Freude für das Herz des natürlichen Menschen in der Gesellschaft seiner Mitmenschen; sein langes Haar deutete an, dass er seine Würde und seine Rechte als Mann aufgab, um ganz den' Willen Gottes, dessen Rechte über sich er anerkannte, unterworfen zu sein; und endlich mied er alles, was ihn mit der Sünde, deren Lohn der Tod ist, in Berührung brachte. Das war die Ordnung und das Geheimnis des Nasiräertums.

Nur um den Preis dieser drei Dinge konnte die Absonderung für Gott bestehen; und wir sehen alle drei in dem Leben Johannes des Täufers verwirklicht. In der vorliegenden Stelle wird er uns jedoch besonders als abgesondert von dem dargestellt, was die Freude des geselligen Menschen ausmacht. Es war vorauszusehen, dass diese Welt bei seinem Anblick ausrufen würde: Dieser Mensch ist ein trauriger und trübsinniger Menschenfeind! Aber nein; jene natürliche Freude, — die einzige, welche der Welt bekannt ist'— war in dem Herzen des Propheten durch eine Freude ersetzt, welche die Welt nicht kennt, und die sie nicht zu schätzen vermag — durch- jene selige Freude, welche die Gemeinschaft mit dem Heilande gibt.

Diese beiden Arten von Freude liegen gleichsam in stetem Kampfe miteinander, sie können nicht nebeneinander bestehen; und nur in dem Maße, wie wir der ersteren entsagen, können wir die letztere genießen. Göttliche Freude war einer der bezeichnenden Charakterzüge dieses strengen Mannes während seines ganzen Lebens. Wunderbares Kind, schon in dem Schoße seiner Mutter! Seine erste Bewegung ist ein Hüpfen vor Freude, als der Gruß der Mutter seines Herrn in die Ohren Elisabeths dringt (Luk. 1, 44); und am Ende seiner Laufbahn sagt er: „Diese meine Freude ist nun erfüllt“ (Joh. 3, 29.)

Vergessen wir nicht, dass ein jeder Gläubige berufen ist, ein Nasiräer zu sein, und dass in dieser Beziehung jetzt nicht mehr nur eine besondere Klasse unter dem Volke Gottes dabei in Betracht kommt. Auch handelt es sich nicht mehr für uns, wie für den jüdischen Nasiräer, um. eine äußerliche Trennung; das gegenwärtige Nasiräertum, die Absonderung für Gott, ist eine durch den Geist bewirkte innerliche Absonderung. Ohne diese Absonderung zu verstehen, sieht die Welt die Wirkung derselben im Leben, in der Freude und in der Kraft der Gläubigen; die Absonderung selbst aber ist ein Geheimnis zwischen der Seele und' Gott. Darüber reden, dass ich abgesondert sei, heißt andere mit meiner Person beschäftigen; sagen, dass ich von Gott abhängig sei, heißt es bereits nicht mehr sein, da ich schon etwas mir selbst zuschreibe; ich gebe auf diese Weise der Welt mein Geheimnis Preis, und biete, wie Simson, mein langes Haar ihrem Scheermesser dar. Sobald Satan und die Welt das Geheimnis meiner Kraft kennen, werden sie nicht eher ruhen, bis sie mich derselben beraubt haben.

Aber ebenso, wie es Gläubige gibt, welche, mit sich selbst zufrieden, die Quelle ihres Nasiräertums bekannt geben, sieht man andere, die unaufhörlich von ihren Befleckungen reden: zwei völlige Gegensätze, ohne Zweifel, und doch beide Auswüchse desselben Stolzes. Der eine sieht die Flecken an seinem Kleide nicht, und der andere weist sie auf; aber beide lassen das einzig Notwendige, die Demütigung und Reinigung, außer Acht.

Wenn wir in irgendeinem Punkte das Gelübde unseres Nasiräats verletzt, wenn wir uns durch die Berührung eines Toten verunreinigt haben, so ist die Wiederherstellung möglich. (4. Mose 6, 9—12.) Lasst uns in uns gehen! Mit der Demütigung werden wir die Reinigung finden. Aber ach! mit der Sünde verlieren wir eine Freude, wie sie Johannes der Täufer genoss, und eine Kraft, wie diejenige des Mannes von Zora. Wie ernst ist das! Wir müssen wieder ganz von vorne anfangen; und es dauerte lange, bis Simson mit dem Wachsen seiner Haare die nötige Kraft wiederfand, um die Säulen des Dagontempels zu zerbrechen.

Dem Worte: „Weder Wein noch starkes Getränk wird er trinken", fügt Gabriel noch hinzu: „und schon von Mutterleibe an wird er mit dem Heiligen Geiste erfüllt werden." Hier finden wir die besondere Macht des Heiligen Geistes gleichsam an das Nasiräertum geknüpft. Viele Christen wähnen, das Erfülltsein mit dem Heiligen Geiste sei eine besondere Gnade, die nur Bevorzugten unter dem Volke Gottes gehören könne. Dem ist aber nicht so. Vielmehr ist dieser Zustand tatsächlich der normale Zustand des Christen: er ist befähigt und in den Stand gesetzt, mit dem Heiligen Geiste erfüllt zu sein, und zwar so, dass der Heilige Geist jede Offenbarung jenes Fleisches, welches das Kind Gottes noch an sich trägt, unterdrücke und vernichte.

Jeder Gläubige ist ein Tempel des Heiligen Geistes, aber nicht jeder Gläubige ist mit Ihm erfüllt. Woher kommt das? Fehlt es etwa dem Heiligen Geiste an Macht, dies zu bewirken? Sicherlich nicht, denn dann würde Er nicht der Heilige Geist Gottes sein. Hat es vielleicht seinen Grund darin, dass wir nicht anders können als Ihn betrüben? In diesem Falle wären wir nicht befreite Gläubige. Aber woran fehlt's denn, wenn selbst der befreite Gläubige nicht mit dem Heiligen Geiste erfüllt ist? Es fehlt an der Verwirklichung des Nasiräertums, wie in Eph. 5, 18 geschrieben steht: „Und berauschet euch nicht mit Wein, in welchem Ausschweifung ist, sondern seid mit dem Geiste erfüllt."

O, liebe Kinder Gottes, liebe Brüder! Welchen Genuss, welch eine Kraft im Zeugnis, welche Gleichförmigkeit mit Christus würden wir haben, wenn wir als wahrhaftige Nasiräer mit dem Heiligen Geiste erfüllt wären! Haben wir jemals, und wäre es auch nur für einen' Augenblick, eine solche Segnung gekostet? Stephanus genoss sie vollständig während seiner kurzen Laufbahn als Zeuge: „Stephanus, ein Mann voll Glaubens und Heiligen Geistes," so wird von ihm gesagt bei der ersten Erwähnung seiner Person; „Stephanus aber, voll Gnade und Kraft," fügt das Wort hinzu, wenn dieser Nasiräer, voll Heiligen Geistes, seine Wirksamkeit unter dem Volke ausübt; „Stephanus aber, voll Heiligen Geistes", sagt das Wort von ihm, wenn das Synedrium mit den Zähnen gegen ihn knirscht. (Apg. 6, 5. 8; 7, 55.)

III Johannes der Täufer in der Wüste

Luk. 1, 80; Matth. 3, 4.

Die beiden an die Spitze dieses Abschnittes gesetzten Stellen machen uns mit dem Leben Johannes des Täufers von seiner Geburt „bis zu dem Tage seines Auftretens vor Israel" bekannt. „Das Kindlein," so lesen wir, „wuchs und erstarkte im Geist." Ein Nasiräer sein, das ist, wie wir gesehen haben, die erste Bedingung zur normalen Entwicklung eines Mannes des Glaubens. Der in uns wohnende Geist kann alsdann Seine Tätigkeit entfalten, um uns wachsen zu lassen, und uns zu kräftigen an dem inneren Menschen. Nichts wird Ihn dann betrüben, und Er wird nicht nötig haben, uns zu tadeln und uns auf unsere Fehler aufmerksam zu machen; wir werden sein wie ein Baum, der in guten Boden gepflanzt ist, dessen Wurzeln von Bächen lebendigen Wassers getränkt werden, und der die stärkenden Strahlen der Sonne völlig empfängt. Der Baum entwickelt sich unter solch wohltätigen Einflüssen. Seine Knospen werden zu Blüten, seine Blüten zu Früchten, je nach der Jahreszeit.

Das waren die Kennzeichen des Propheten schon in seiner Kindheit; und doch war er nur ein schwaches Bild von Dem, dessen Ankunft er bald verkündigen sollte. Von Jesu, dem Herrn Johannes des Täufers, steht geschrieben: „Das Kindlein aber wuchs und erstarkte, erfüllt mit Weisheit, und Gottes Gnade war auf ihm." Und ferner: „Und Jesus nahm zu an Weisheit und an Größe und an Gunst bei Gott und Menschen." (Luk. 2, 40. 52.) Er wäre nicht wahrhaft Mensch gewesen, wenn Er nicht von Seiner Geburt an alle Abschnitte der Entwicklung des Menschen durchgemacht hätte; und Er wäre nicht Gott gewesen, wenn Er nicht in absoluter Vollkommenheit hindurchgegangen wäre. Johannes hatte Hilfe nötig, um zu wachsen und stark zu werden im Geiste, wie auch der Evangelist sagt: „Denn auch des Herrn Hand war mit ihm." (Luk. 1, 66.) Jesus aber wuchs und erstarkte, so zu sagen, von sich selbst, obwohl in einer vollkommenen Abhängigkeit als Mensch. Wir finden in dem Evangelium Lukas die Vollkommenheit dieses Aufblühens. Die Blume ist in der Knospe ohne Fehler; völlig geöffnet ist sie unverwelklich; die göttliche Gunst, der Tau des Himmels, füllt ihren Kelch; sie ist von einem Wohlgeruch und einer Anmut, dass sie die Wonne Gottes und der Menschen bildet. Sie verspricht rechtzeitige Frucht, eine göttliche Entwicklung von völliger Reife.

Wir haben den inneren Zustand des Sohnes des Zacharias bereits betrachtet. Werfen wir jetzt einen Blick auf seine äußere Erscheinung. Sie war eine derartige, dass sie von Jugend auf die Blicke der Menschen auf sich ziehen musste. Das Wort sagt uns von Johannes: „Er war in der Wüste." Welch ein Gegensatz zu der Welt, die ihn umgab! Das römische „Tier" war damals in voller Blüte, fest, wie nie zuvor ein Reich gewesen war. (Luk. 3, 1.) Die Verwaltung des Landes, das Heer, die Künste, die Religionen, selbst die jüdische Religion (Luk. 3, 2.) waren in bemerkenswerter Weise geordnet und eingerichtet. Wahrlich, alles das war der Wüste so unähnlich wie möglich, und es ließ sich gut leben unter einer solchen Regierung. Die Wahl zwischen der Wüste und dem Lande Judäa unter Herodes würde einem Lot nicht schwer gefallen sein. Johannes der Täufer aber fand nichts, was ihn anziehen konnte; er war in der Wüste, vollständig und sichtbarlich abgesondert von der Welt. Auch wenn Gott ihn aussendet und er die Grenze der Wüste überschreitet, um inmitten der Welt und ihrer lärmenden Tätigkeit zu weissagen, findet sein Herz dorr nichts als öde Leere und tiefes Schweigen: „Stimme eines Rufenden in der Wüste," sagt er; denn die Welt ist für ihn eine Wüste. Er verlangt nichts von ihr; er geht nicht hinaus, um ,,kostbare Kleider" zu suchen, sondern bringt vielmehr die Gewohnheiten des Landes seiner Wahl mit sich zu der Welt. Seine Kleidung besteht ans Kamelhaaren — das einzige grobe Gewand, welches die Wüste ihm bieten kann; um seine Lenden trägt er einen ledernen Gürtel, wie in früheren Zeiten der Prophet Elia, als er sich den Gesandten des Ahasja zeigte (2. Kön. 1, 8.); seine Nahrung' besteht aus Heuschrecken und wildem Honig, den er an den wüsten Örtern einsammelt. Wie Elia am Bache Krith, so ist auch er betreffs seines Unterhaltes ganz von dem abhängig, was Gott ihm in einem unfruchtbaren, dürren Lande bereitet hat: eine Abhängigkeit, schmerzlich für das Fleisch, aber tausendfach gesegnet, da sie die Kraft jedes wahren Dienstes ausmacht. Gerade das Leben und die Erfahrungen der Wüste sind es, welche den Täufer in den Stand setzen, die „Stimme" Dessen zu sein, der sich dort hören lässt, und, wie Elia, furchtlos seine« gefahrvollen Auftrag auszuführen.

Indes hat ein anderer in dieser Erfahrung Johannes den Täufer noch weit überholt; es ist Der, von welchem in Psalm 110, 7 gesagt wird: „Auf dem Wege wird Er trinken aus dem Bache" — ein kurzer Ausspruch, aber in ihm ist die ganze irdische Laufbahn des Heilandes zusammengefasst. David sieht Ihn in diesem Psalm im Voraus zur Rechten Gottes sitzen, aber er betrachtet auch im Voraus den Weg, der Ihn dorthin führen sollte. Was alles sagen uns diese wenigen Worte: „Airs dem Wege wird Er trinken «aus dem Bache!" Diese kurze Schilderung vergegenwärtigt uns einen Menschen, der sich auf dem Marsche befindet und Eile hat, seinen Auftrag auszuführen. Unwillkürlich wenden sich dabei unsere Gedanken zu der Geschichte der Begleiter Gideons, die durch Jehova zur Befreiung des Volkes berufen waren, und welche auf dem Wege aus dem Bache tranken. (Vergl. Richt. 7.) Ihrer waren dreihundert, und sie waren auserwählt für eine irdische Befreiung. Jesus war allein und nahm die Verantwortlichkeit für ein ewiges Heil auf sich. Nichts hielt Ihn auf, auch nicht für einen Augenblick. Vorräte an Lebensmitteln hatte Er nicht, nur ein wenig Wasser, um Seinen Durst zu stillen; und Er entfernte sich nicht von dem Wege, um es zu suchen. Die Hilfsquellen, welche Gott Ihm auf dem Wege darbot, genügten Ihm, denn Er verfolgte nur das eine Ziel: Seinen Auftrag auszuführen, darauf war Sein ganzes Herz gerichtet. Er gehörte nicht zu denen, welche sich am Rande des Baches auf ihre Kniee niederlassen, um bequem aus demselben trinken zu können.

Mein Leser! hast du jemals in den Evangelien darnach geforscht, wie oft unser anbetungswürdiger Heiland auf dem Wege aus dem Bache getrunken hat? Sie sind sehr schnell gezählt, diese Quellen der Erquickung, welchen Er nach langen, in brennender Sonnenhitze zugebrachten Zwischenräumen begegnete — Quellen, hervorgerufen durch einen wohltuenden Regen, den der Himmel für einen Augenblick auf Seinen Weg herabströmen ließ, und aus welchen Er schöpfte, ohne Seinen Lauf zu unterbrechen. Wenn an dem Brunnen von Sichar eine elende Samariterin ihr Gewissen von Dem erreicht sah, welcher sie bat: „Gib mir zu trinken," ohne dass sie Ihm auch nur einen Tropfen Wassers geben konnte, so floss der Bach schon auf dem Wege des Heilandes. Mit welcher Freude löschte Er dort im Vorbeigehen Seinen Durst! „Ich habe Speise zu essen,'' sagt Er zu Seinen Jüngern, „die ihr nicht könnet;" und weiterhin: „Der da erntet, empfängt Lohn und sammelt Frucht zum ewigen Leben, auf dass beide, der da säet und der da erntet, zugleich sich freuen." (Joh. 4, 32. 36.) Wenn an dem Tische des Pharisäers eine arme, von der Sünde überführte Sünderin zu den Füßen der Gnade saß, die allein Vergebung schenken konnte, und ihre Tränen und ihre wohlriechende Salbe dem Heiland darbrachte, so war es nicht das Mahl des Simon, an welchem Er teilnahm, sondern Er aß von dem Tische, welchen Gott Ihm in dem Herzen dieses Weibes ausrichtete. Wenn Martha, besorgt und beunruhigt, mit vielem Dienen beschäftigt war, um den Herrn in ihrem Hause würdig zu empfangen, so trank Er auf dem Wege aus dem Bache, indem Seine Augen auf Maria ruhten, die zu Seinen Füßen sitzend, stillschweigend Ihm zuhörte und in Ihm das gute Teil fand. Und am Ende Seiner letzten Reise, als der Augenblick herannahte, wo Er unter dem verzehrenden Feuer des Gerichts ausrufen sollte: „Mich dürstet!" fand Er zum zweiten Male, nicht an dem Tische von Bethanien, sondern bei Maria den erquickenden Bach bereitet, indem diese, dem Tage Seines Begräbnisses gleichsam zuvorkommend, ihre kostbare Salbe über die Füße und das Haupt des dem Tode geweihten Heilandes ausgoss.

Ach! solche Gelegenheiten waren selten, aber sie genügten diesem vollkommenen Herzen, das dem Vater völlig unterworfen und von Ihm abhängig war. Anbetungswürdiger Heiland! Du hast aus dem Wege aus dem Bache getrunken, aber Du wirst Dein Haupt erheben! Schon jetzt bist Du in der erhabensten Stellung, sitzend auf dem Throne des Vaters, zu Seiner Rechten. Du hast die Genugtuung, Dein Werk zur Verherrlichung Deines Vaters erfüllt zu haben, und Dein Sitzen droben ist der unwiderlegbare Beweis dafür. Kraft dieses Werkes bist Du von Gott begrüßt worden als Hohepriester für uns in Ewigkeit, nach der Ordnung Melchisedeks. Aber es bleibt Dir noch übrig, Deinen Thron einzunehmen, ihn zu besteigen, indem Du Deine Feinde zum Schemel Deiner Füße machst. Dann wirst Du uns dort bei Dir haben. Du wirst die Frucht der Mühsal Deiner Seele sehen und gesättigt werden! (Jes. 53, 11.)

IV. Johannes als Prophet

(Matth. 3.)

Das 3. Kapitel des Evangeliums Matthäus führt Johannes den Täufer in seinen öffentlichen Dienst ein. Dieser Dienst scheint mir durch die wenigen Worte des Heilandes gekennzeichnet zu sein, welche Er gelegentlich der Verteidigung Seines Knechtes vor der Volksmenge aussprach: „Was aber seid ihr hinausgegangen zu sehen? Einen Propheten? Ja, ich sage euch, und mehr als einen Propheten." (Matth, 11, 9.)

Johannes der Täufer war ein Prophet, aber selbst als solcher waren seine Stellung und sein Dienst über diejenigen der alten Propheten erhaben Die letzteren wirkten und redeten entweder in Jerusalem oder Israel, oder in der Mitte des gefangenen oder des aus der Gefangenschaft zurückgeführten Volkes. Johannes der Täufer aber sonderte sich von dem Volke ab; er lebte in der Wüste. Der einzige Prophet, welchem er gleichgestellt werben darf unter anderen Verhältnissen, ist Elias, aber dieser wurde durch seine Schwachheit und nicht durch den Herrn in die Wüste geführt. (1. Kön. 19.)

Ein Überrest von Juda war einst aus der babylonischen Gefangenschaft zurückgekehrt; aber in den Augen des Propheten gab es von jetzt an nur noch einen Überrest von diesem Überrest, der als Israel anerkannt werden konnte. Darum richtet Johannes der Täufer seine Botschaft nicht mehr an die Masse des Volkes, wie die Propheten, welche ihm vorangegangen waren; vielmehr sagt er: „Stimme eines Rufenden in der Wüste." Israel selbst war eine Wüste für Gott geworden. Das prophetische Zeugnis gründet sich von nun an auf den unheilbaren Verfall des Volkes, während der Dienst der alten Propheten immer noch die Möglichkeit einer nationalen Rückkehr zu Jehova voraussetzte.

Damals war das göttliche Urteil über das menschliche Geschlecht noch nicht endgültig ausgesprochen. Die Propheten waren durch ihre Sendung berechtigt, zu untersuchen, ob es nicht noch etwas Gutes in dem Menschen gäbe, durch das er zu Gott zurückgeführt werden könnte. Johannes der Täufer hat ohne Zweifel, wie jene, Buße gepredigt, aber eine Buße, die auf einen unheilbaren Verfall gegründet war. Darum fügt auch Jesaja, wenn er den Dienst Johannes des Täufers beschreibt, die Worte hinzu: „Eine Stimme spricht: Rufe! Und er spricht: Was soll ich rufen? Alles Fleisch ist Gras, und alle seine Güte wie des Feldes Blume. Das Gras verdorrt, die Blume fällt ab, denn der Hauch Jehovas hat sie angeweht. Fürwahr, das Volk ist Gras!"

Was bleibt also von dem Menschen übrig? Nichts; „der Hauch Jehovas hat sie angeweht". — Von da an erkannte die Buße diese Tatsache an; man hatte sich zu richten in der Gegenwart Gottes, und man ging hinaus zu dem Propheten, um, indem man seine Sünden bekannte, durch ihn in dem Jordan getauft zu werden. Der Sünder beschränkte sich nicht mehr darauf, seine Fehler zu bekennen, sondern er erkannte auch an, dass von jetzt an die einzige Antwort auf seinen Zustand der Tod war, und dass es kein Heilmittel mehr für diesen Zustand gab. Der Zeitabschnitt, in welchen die Welt eintrat, machte einen solchen Dienst auch notwendig. Der Herr erschien auf dem Schauplatz. Die Geschichte des ersten Menschen war tatsächlich geschlossen, um der Geschichte des zweiten Menschen, dem man von jetzt an angehören musste, Platz zu machen.

Das Mittel, um diesem auf der Erde lebenden Messias (Johannes taufte für einen lebenden Christus;, die christliche Taufe geschieht auf den T o d Christi) anzugehören, bestand darin, sich selbst zu verurteilen und sich in die Arme der Gnade zu werfen. Auch Zacharias, der Vater Johannes des Täufers, weissagte von dem Kindlein: „Du wirst vor dem Angesicht des Herrn hergehen, Seine Wege zu bereiten, um Seinem Volke Erkenntnis des Heils zu geben in Vergebung ihrer Sünden, durch die herzliche Barmherzigkeit unseres Gottes, in welcher uns besucht hat der Aufgang aus der Höhe, um denen zu leuchten, die in Finsternis und Todesschatten sitzen." (Luk. 1, 76—79.) Und welche Leute sehen wir zu der Taufe des Propheten gehen? Zöllner, Menschen von offenbar verabscheuungswertem Charakter, und Kriegsleute, die gewohnt waren, das Volk zu bedrücken. Verderbnis und Gewalttat, aber beide anerkannt und gerichtet, fanden sich zur Taufe der Buße ein. „Johannes", sagt der Herr, „kam zu euch im Wege der Gerechtigkeit, und ihr glaubtet ihm nicht; die Zöllner aber und die Hurer glaubten ihm." (Matth. 21, 32.) Für solche Leute gibt es offenbar keine Hilfe mehr, und Gott kann in ihnen nur die Frucht Seines Werkes anerkennen. „Gott vermag dem Abraham aus diesen Steinen Kinder zu erwecken." (Matth. 3, 9.)

Indes gibt es noch eine andere Seite des prophetischen Dienstes, welche Johannes dem Täufer nicht fehlen durfte, und welche er in vollkommenerer und entschiedenerer Weise als seine Vorgänger darstellte; ich meine das Gericht, im Gegensatz zu der Gnade. Die Pharisäer und Sadduzäer kamen mit der Volksmenge zu der Taufe des Johannes; sie kamen aber nicht als Schuldige, sondern als Eigengerechte. Der Anblick des Werkes Gottes in den Zöllnern und Hurern brachte bei diesen Leuten weder Gewissensbisse noch Glauben hervor (Matth. 21, 32); auch wird sogleich das entscheidende Urteil über sie gesprochen. Eine „Otternbrut" kann nur für den kommenden Zorn bestimmt sein; man kann sie nicht lehren, demselben zu entfliehen. Wenn sie dieses Urteil annähmen, so würden sie die Frucht bringen, welche der Buße geziemt. Die Abstammung von Abraham nach dem Fleische sollte beiseitegesetzt werden; Gott wollte dem Abraham Kinder erwecken, indem Er demjenigen Leben gab, was tot und hart wie Stein war. (Matth. 3, 9.)

Der Täufer fügt seinem ernsten Urteilsspruch noch die Worte hinzu: „Schon ist aber die Axt an die Wurzel der Bäume gelegt." Wie man in einem Walde mit der Axt die Bäume bezeichnet, welche gefällt werden sollen, so waren die Gegenstände des Gerichts schon bezeichnet. Allein es handelte sich nicht länger darum, nur die Zweige oder selbst den Stumpf abzuhauen; nein, die Wurzel war schlecht. Es wird von euch, so sagt der Prophet gleichsam, nichts übrigbleiben gegenüber dem Gericht, das vor der Tür steht. Und wer wird dieses Gericht vollziehen? Christus. „Er wird euch mit dem Heiligen Geiste und mit Feuer taufen." (Vers 11.) Er besitzt die beiden Mittel, welche die Sünde zu vernichten vermögen: den Geist, das Geschenk der Gnade, als Folge des Werkes des Heilandes, und das Feuer, d. h. das Gericht, welches alles verzehrt. Ich kann, so scheint Johannes zu sagen, nichts für euch tun, ich taufe nur mit Wasser; aber Er, der unter euch steht, der Christus, Er bringt euch eine völlige Befreiung, und der Welt ein endgültiges Gericht.

Alsdann betrachtet er, indem er beschreibt, was der Herr im Begriff stand, in Israel zu tun, das Endresultat Seiner Tätigkeit in der Zukunft: „Seine Worfschaufel ist in Seiner Hand": ein Gericht, welches die Spreu absondert, über das Korn aufbewahrt, um es in die Scheune einzusammeln. Das ist es, was dereinst in Bezug auf Israel stattfinden wird. Alsdann wird die Tenne Jehovas durch und durch gereinigt werben; es wird kein Schmutz darin zurückbleiben, denn das unauslöschliche Feuer wird jeden Strohhalm verzehren. Das ist also die zweite Seite des Dienstes Johannes des Täufers: die Fülle des Gerichts und die Größe der Errettung, beide dargestellt und eingeführt in der Person des Messias.


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