RB- "Er ist die Sühnung für unsere Sünden." Ein Wort zur Versöhnung, Sühnung und Stellvertretung


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(1. Joh. 2, 2.)

Anschauungsunterricht ist eines der besten Unterrichtsmittel, um den Begriffen und Gedanken eines Schülers zur Grundlage zu dienen, oder seinen Gedankenkreis zu erweitern und da, wo es nötig ist, zu berichtigen. So hat es auch Gott gefallen, uns in Seinem Worte in mancherlei Weise Anschauungsunterricht zu geben; und wer vermöchte zu unterrichten wie Er? Ach, wenn wir nur aufmerksamere und gelehrigere Schüler wären! Aber wie viel Geduld und Langmut muss Er mit uns haben, wie oft dieselben Unterweisungen wiederholen, bis wir sie endlich erfassen und festhalten!

Vor allem ist es die Person und das Werk Seines geliebten Sohnes, worüber Gott von jeher in immer neuen, lieblichen oder auch ernsten und ergreifenden Bildern und Vorbildern geredet hat. „Niemand erkennt den Sohn, als nur der Vater", ist freilich ein Wort, das ewiglich wahr bleibt. Die Vereinigung von Gottheit und Menschheit in einer Person wird selbst auch dann noch ein Geheimnis für uns sein, wenn wir Jesus sehen werden, „wie Er ist". Aber das was Er war und ist als Sohn Gottes, als Sohn des Menschen, als Diener und Prophet, als König Israels, als Lamm Gottes, als Hohepriester und Sachwalter, als Haupt Seiner Versammlung, der Gemeinde usw. usw., alles das dürfen wir mit wachsender Erkenntnis und steigender Bewunderung in dem Motte Gottes, in der Schule des Heiligen Geistes, betrachten. Und wer das mit Fleiß und Treue, in Abhängigkeit von oben tut, wird kostbare Unterrichtsstunden erleben.

Heute wollen wir uns ein wenig mit dem beschäftigen, was Gott uns im Alten Testament in vorbildlicher Weise sagt über die Grundlage unserer Beziehungen zu Ihm als Gläubige, d. h. über das große Werk der Versöhnung, wie es durch unseren Herrn und Heiland einst am Kreuze vollbracht worden ist. Zur Veranschaulichung dieses Werkes diene uns die Verordnung über den Versöhnungstag Israels in 3. Mose 16, jenem wunderbaren Kapitel, das man wohl den Kern und Mittelpunkt jenes ganzen, Opfer- und Priesterdienst behandelnden Buches nennen kann.

Der Versöhnungstag war eines der drei Hauptfeste Israels, an welchem alle Männlichen aus dem Volke vor dem Angesicht des Herrn Jehova erscheinen mussten. (2. Mose 23, 14—17.) Es wurde gefeiert am zehnten Tage des siebenten Monats, kurz nach dem Feste des Posaunenhalls und wenige Tage vor dem Laubhütten- fest, dem letzten in der ganzen Reihe der Feste. Jeder Israelit musste an diesem Tage „seine Seele kasteien", sich vor Gott in Buße und Selbstgericht niederbeugen, und „keinerlei Arbeit" durfte an ihm getan werden; denn an diesem Tage wurde „Sühnung getan für ihre Sünden, um sie von allen ihren Sünden vor Jehova zu reinigen". (3. Mose 16, 30.) Wer seine Seele nicht kasteite, musste ausgerottet werden aus seinen Völkern, und wer irgend eine Arbeit an diesem Tage tat, den wollte Gott selbst aus der Mitte Seines Volkes vertilgen. (Kap. 23, 28—30.) Warum dieser heilige Ernst, diese unerbittliche Strenge? Eben weil an diesem Tage immer wieder (denn das Gesetz konnte nichts zur Vollendung bringen) die Grundlagen der Beziehung Gottes zu Seinem Volke erneuert wurden. Es war der Tag der Versöhnung, an welchem nur Gott tätig sein konnte und der Mensch seinen Platz im Staube einnehmen musste. Damit kommen wir zu der Frage:

Was ist Versöhnung?

Das im Neuen Testament für „Versöhnung" gebrauchte griechische Wort (es kommt nur in Röm. 5, 11; 11, 15 und 2. Kor. 5, 18. 19 vor; das Zeitwort „versöhnen" nur in Röm. 5, 10; 1. Kor. 7, 11 und 2. Kor. 5, 18—20) bedeutet eigentlich „Ausgleichung, Auswechslung" (beim Geldgeschäft), dann im weiteren Sinne „Vergleich, Aussöhnung". Es bezeichnet also die Entfernung alles Störenden und Trennenden zwischen zwei Parteien, die Zurückführung zu Einheit, Friede und Gemeinschaft zwischen solchen, die einander entfremdet sind, oder sich feindlich gegenüberstehen. Wenn wir das Gesagte auf das Verhältnis zwischen uns und Gott anwenden, so muss nur hinzugefügt werden, dass die Entfremdung und Feindschaft allein auf unserer Seite lag. Bei Gott gab es keine Entfremdung, nur eine gerechte Verurteilung der Sünde in dem Menschen, und diese Gerechtigkeit musste befriedigt werden, wenn anders das gefallene und von Gott entfremdete Geschöpf zu Ihm zurückgebracht oder gar in den Genuss der Ratschlüsse Gottes in Christus eingeführt werden sollte.

Dass Gott mit uns versöhnt worden sei, ist ein ganz schriftwidriger Gedanke. Wir find mit Gott versöhnt. Es bedurfte keiner Handlung oder Anregung irgend welcher Art, um Gottes Sinn zu ändem. Er handelte völlig frei und unbeeinflusst, Seiner Natur und Seinen Ratschlüssen entsprechend. In der Liebe Seines Herzens „sandte Er Seinen Sohn als eine Sühnung für unsere Sünden" (1. Joh. 4, 10), für den gefallenen Menschen, und zwar nicht, um ihn in das frühere Verhältnis, das durch die Sünde völlig zerstört und verwirkt worden war, zurückzuführen, sondern um ein ganz neues Verhältnis zu schaffen, welches sich auf das Erlösungswerk gründet und Gottes Gnadenratschlüsse zur Darstellung bringt. Dennoch ist es eine Zurückführung in die göttliche Gunst, die verloren worden war.

Die Versöhnung hat in der Heiligen Schrift einen doppelten Charakter oder, vielleicht richtiger ausgedrückt, sie ist zwiefach in ihrer Bedeutung und Wirkung. Sie bezieht sich auf Dinge und Menschen — ein Punkt, der gar oft übersehen wird, und doch redet die Schrift so einfach und klar darüber. So lesen wir z. B. in Kol. 1, 19 und 20: „Es war das Wohlgefallen der ganzen Fülle (der Gottheit) in Ihm (Christus) zu wohnen und alle Dinge mit sich zu versöhnen — indem Er (oder „sie") Frieden gemacht hat durch das Blut Seines Kreuzes — durch Ihn, es seien die Dinge auf der Erde oder die Dinge in den Himmeln". Gott wollte, dass die ganze Schöpfung, das ganze All, von der Verunreinigung und dem Fluche der Sünde befreit und in ihre wahre Ordnung und ihr richtiges Verhältnis Ihm gegenüber gebracht werde. Das Werk dafür ist vollbracht, die gerechte Grundlage ist gelegt worden — Christus hat Frieden gemacht durch Sein am Kreuze vergossenes Blut —, wenn auch die gesegneten Folgen des Werkes heute noch nicht von uns gesehen werden. Noch „seufzt die ganze Schöpfung und liegt in Geburtswehen". Aber nicht mehr lange, so werden „die Zeiten der Wiederherstellung aller Dinge" kommen (Apstgsch. 3, 21), und schließlich werden ein neuer Himmel und eine neue Erde Zeugnis geben von der Vollkommenheit des auf Golgatha geschehenen Versöhnungswerkes.

Was uns, die Gläubigen, anbetrifft, so kann der Apostel hinzufügen: „Und euch, die ihr einst entfremdet und Feinde wäret . . . , hat Er (oder sie) aber nun versöhnt in dem Leibe Seines Fleisches durch den Tod". Wir sind versöhnt und genießen heute schon, abgesehen von unserem Leibe, der noch dieser Schöpfung angehört, die vollen Ergebnisse der Versöhnung.

Wenn wir über diese Dinge reden, werden wir ganz von selbst an eine andere Stelle erinnert, die schon viel Anlass zu verkehrten Schlussfolgerungen gegeben hat. Wir meinen 2. Kor. 5, 18—20, vor allem den 19. Vers: „Gott war in Christus, die Welt mit sich selbst versöhnend". Was will die Stelle sagen? Es heißt nicht: Gott ist in Christus. Die Stelle redet vielmehr davon, dass der damalige Dienst des Apostels an die Stelle des persönlichen Dienstes Christi getreten war und sich auf die Tatsache gründete, dass Gott Den, der keine Sünde kannte, am Kreuze für uns zur Sünde gemacht hat, auf dass wir Gottes Gerechtigkeit würden in Ihm. Mit anderen Worten: Gott erschien einst in Christus in dieser Welt, in der Absicht, die Welt mit sich selbst zu versöhnen. Er bot der Welt gleichsam eine Rückkehr zu Ordnung und Segnung an, indem Er in bedingungsloser Gnade den Menschen ihre Übertretungen nicht zurechnete. Er rief dem Sünder zu: Ich bin nicht gekommen, zu richten und zu strafen; nein, kehre um zu mir, und ich will vergeben, kehre um, und ich will des Vergangenen nie mehr gedenken! Die Welt aber hat dieses Anerbieten schroff von sich gewiesen. Sie wollte Jesus nicht und hasste Gott. Ihr Zustand war hoffnungslos böse, keiner Wiederherstellung fähig.

Ist nun Gottes Absicht unerfüllt geblieben? Nein, wenn die Gesamtheit Ihn verwirft, so nimmt Er den einzelnen aus dem furchtbaren Zustand, in welchem er ist, heraus und stellt ihn auf einen ganz neuen Boden — „wenn jemand in Christus ist, da ist eine neue Schöpfung". Freilich gibt es für die Welt als solche jetzt kein Rettungsmittel mehr; sie hat das beste und einzige in ihrer gottfeindlichen Gesinnung zurückgewiesen, und nun bleibt nur noch Gericht für sie übrig. (Vergl. Joh. 12, 31.) Gott beschäftigt sich in diesem Sinne jetzt nicht mehr mit der Welt. Nachdem Er ihr den höchsten Beweis Seiner Liebe gegeben (Joh. 3, 16), ihr Heil und Leben angeboten hat (Joh. 3, 17; 6, 33. 51), und sie dieses Anerbieten mit tödlichem Hasse beantwortet hat, nimmt Gott nur noch einzelne aus der Welt heraus, an welchen Er Sein Erbarmen groß macht. Fortan heißt es: „auf dass jeder, der an Ihn glaubt, nicht verloren gehe" — „wenn jemand in Christus ist" — „wer da will, der komme" usw. Und: „Wer nicht glaubt, wird das Leben nicht sehen, sondern der Zorn Gottes bleibt auf ihm". (Joh. 3, 36.)

Aber auch in anderer Beziehung wird Gottes Absicht nicht unerfüllt bleiben. Christus kam in diese Welt, „und die Welt ward durch Ihn". (Joh. 1,10.) Alle Dinge sind durch den Sohn Gottes und für Ihn geschaffen, und sie werden, wie wir bereits hörten, dereinst, auf Grund des Versöhnungswerkes, in einen regelrechten Stand ihres Verhältnisses zu Gott zurückgebracht werden. Sie, die nicht „mit Willen", wie der Mensch, „der Eitelkeit unterworfen worden sind", (die geschaffenen Dinge haben keinen Willen, sondern sind durch den bösen Willen des Menschen in die Sklaverei des Verderbnisses mithineingezogen worden) warten sehnsüchtig auf die Offenbarung der Herrlichkeit der Kinder Gottes. (Röm. 8, 19—22.) Auch sie werden dann eine „Wiedergeburt" erfahren, wie der Herr Seinen Jüngern in Matth. 19, 28 sagt: „In der Wiedergeburt, wenn der Sohn des Menschen auf Seinem Throne der Herrlichkeit sitzen wird, werdet auch ihr usw." Es ist dasselbe Wort, welches in Tit. 3, 5 durch den Heiligen Geist auf die Gläubigen angewandt wird. Dass bei der Schöpfung, die keinen Willen hat, nicht von einer Erneuerung dieses Willens, von einer inneren Umwandlung und dergl. gesprochen werden kann, wie bei uns, ist selbstverständlich. Dennoch nennt die Schrift das, was sie dereinst erfahren wird, „Wiedergeburt". Man redet und schreibt heute viel von einer „Allversöhnung". Wenn man mit dem Worte sagen will, dass auch das All, alle Dinge, einmal die gesegneten Wirkungen der durch Christus vollbrachten Versöhnung genießen wird, so ist das gut und schrift- gemäß. Schließt man aber die Errettung aller Menschen und schließlich gar auch Satans und seiner Engel darin ein, so ist es schriftwidrig und von Grund aus böse und kann nicht entschieden genug zurückgewiesen werden.

Römer 5, 10. 11 wird nach dem Voraufgegangenen leicht verstanden werden; eher möchten die Worte des Apostels in Röm. 11, 15 dem einen oder anderen Leser Schwierigkeiten bereiten. Es heißt dort: „Wenn ihre (der Juden) Verstoßung die Versöhnung der Welt ist, was wird die Annahme anders sein, als Leben aus den Toten?" Der Sinn der Stelle ist einfach und bestätigt nur das, was wir bisher ausgeführt haben. Die Juden hatten bis zur Verwerfung ihres Messias in einem geordneten Verhältnis zu Gott gestanden, wenn sie auch untreu darin gewesen waren. Die Welt hatte gar keine Beziehungen zu Gott; die Menschen in ihr waren „entfremdet dem Bürgerrecht Israels und Fremdlinge betreffs der Bündnisse der Verheißung", ohne jede Hoffnung und ohne Gott in der Welt. Nach dem Falle Israels wurde das anders. Gott ließ nun alle Menschen allenthalben auffordern, Buße zu tun. Nach den „Zeiten der Unwissenheit" (Apstgsch. 17, 30) wurde jetzt das Evangelium Gottes aller Welt angeboten, das Wort der Versöhnung der ganzen Welt ohne Unterschied verkündigt. Wenn nun Israels Verstoßung eine solche Segenswelle über die Welt gebracht hat, welche Folgen muss dann erst Israels Wiederherstellung haben, wenn Gott am Ende sich Seines Volkes wieder annehmen und ihm alle Seine Verheißungen erfüllen wird!

Stellen wir uns jetzt, zu unserem Kapitel zurück- kehrend, die Frage, wie die bisher behandelte Wahrheit dort zur Darstellung kommt, so werden wir mit Erstaunen finden, dass die Reinigung des Heiligtums und des Zeltes der Zusammenkunft gerade die Sache war, welche am Versöhnungstage zuerst in Betracht kam. Erst in zweiter Linie werden Priester und Volk genannt. Die heiligen Ansprüche Gottes mussten zunächst im Blick auf Sein Wohnen inmitten Seines Volkes befriedigt werden. Aaron musste mit dem Blute des Opfertieres „Sühnung tun für das Heiligtum wegen der Unreinigkeiten der Kinder Israel und wegen ihrer Übertretungen, nach allen ihren Sünden". (V. 16.) Die Stiftshütte in der Wüste war in ihren drei Abteilungen ein Bild des Weltalls, und so wie der Hohepriester mit dem Sühnungsblut durch das ganze Zelt bis ins Allerheiligste ging, so ist auch Christus durch die Himmel gegangen und als Hoherpriester ins Heiligtum eingetreten. Im Alten Bunde wurde alles, Hütte und Altar, durch Blut gereinigt, und so wird Gott einmal alles, was im Himmel und auf Erden ist, mit sich versöhnen durch das Blut Seines geliebten Sohnes. Die Grundlage dafür ist, wie bereits gesagt, im Kreuze Christi gelegt, das Sühnungsblut ist geflossen, das Ergebnis wird im Tausendjährigen Reiche und in der neuen Schöpfung gesehen werden. In gewissem Sinne ist das Weltall das Haus, die Wohnung Gottes. Der Himmel ist Sein Thron, und die Erde der Schemel Seiner Füße. Er lässt sich herab, in dem zu wohnen, was Christus erschaffen hat, und diese Seine Wohnung muss und wird von der Verunreinigung, die sie durch des Menschen Schuld erfahren hat, gereinigt werden; und dies konnte und kann nur geschehen durch eine vollgültige Sühnung, durch die „Abschaffung der Sünde", wie es in Hebr. 9, 26 heißt. Das führt uns aber zu der weiteren Frage:

Was ist Sühnung?

Im Allgemeinen denkt man, wenn von dem Sühnungswerke Christi die Rede ist, an das Hinwegtun unserer Sünden, an die Bezahlung der Schuld, die wir vor Gott hatten. Man hält das für das Wichtigste, wenn nicht gar für das Einzige. An die Erfüllung der gerechten und heiligen Forderungen Gottes und vor allem an Seine Verherrlichung durch jenes Werk denkt man selten, und doch ist dies gerade die erhabenste Seite der Sühnung, der wichtigste Teil des Werkes.

Am großen Versöhnungstage mussten (außer dem besonderen Opfer, das der Priester für sich und sein Haus darzubringen hatte) zwei Böcke vor Jehova gestellt werden: der eine, durch das Los bestimmt, für Jehova, der andere für das Volk. Und beachten wir von vornherein wohl: Obgleich die Sünden des Volkes zu der ganzen Opferhandlung Anlass gaben, wurden doch bei dem ersten Bock, der für Jehova war, diese Sünden garnicht erwähnt. Sie wurden erst auf den Kopf des zweiten Bockes bekannt und von diesem in ein ödes Land getragen, wo niemand sie mehr sah. Mit dem Blute des ersten Bockes, der im Vorhof geschlachtet wurde, ging der Hohepriester ins Allerheiligste, um einmal auf und siebenmal („Sieben" ist die Zahl der Vollkommenheit in geistlichen Dingen, so wie „Zwölf" eine Vollkommenheit in einer dem Menschen anvertrauten Regierung oder Verwaltung andeutet.) vor (oder an die Vorderseite) des goldenen Sühndeckels zu sprengen und so Sühnung zu tun für das Heiligtum und in weiterem Sinne für das Volk. „Denn das Blut ist es, welches Sühnung tut durch die Seele." (Kap. 17, 11.)

Warum musste aber das Blut ins Heiligtum gebracht werden? Weil hier der Thron des durch die Sünde verunehrten und beleidigten Gottes aufgerichtet war. Seine Herrlichkeit erstrahlte über den beiden Cherubim, den symbolischen Wächtern über die Erfüllung Seiner gerechten Forderungen und die Ausführung Seiner richterlichen Wege. Ihre Angesichter waren allezeit gegen die Bundeslade hin gerichtet, in welcher die beiden Gesetzestafeln lagen, die feierlichen Zeugen wider das sündige Volk. Statt dass die zehn Gebote von Israel beobachtet worden wären, übten zahllose Übertretungen derselben ihre befleckende Wirkung Gottes aus und heischten Sühnung, eine gültige Sühnung vollziehen? notwendige Opfer bestimmen und allein. Und Er tat es. Die beiden Böcke (e s braucht kaum gesagt zu werden, dass die beiden Opfertiere einen Christus vorstellen, aber einen Christus in der doppelten Bedeutung Seines Opfers, in dessen Richtung Gottwärts und Menschenwärts) bildeten freilich nur ein schwaches Vorbild von jenem reinen und heiligen Opfer, das Gott schon vor Grundlegung der Welt zuvor erkannt hat, und das allein Ihn wahrhaft befriedigen konnte; aber dennoch reden sie in überaus eindrucksvoller Weise zu uns: Ein Bock für Jehova, ein Bock für das Volk; ein Bock zur Befriedigung der heiligen Ansprüche Gottes, ein Bock zum Hinwegtun der Sünden des Volkes; ein Bock, um die Grundlagen für die Verherrlichung Gottes und Seine Gnadenwege zu legen, ein Bock, um die anklagenden Gewissen zum Schweigen zu bringen und den zagenden Herzen Ruhe zu geben.

Noch einmal sei es betont: Diese Opfer, die „alljährlich ununterbrochen dargebracht wurden", konnten die den Gottesdienst Übenden niemals vollkommen machen, sie waren außerstande, einen festen Frieden und eine bleibende Ruhe zu geben — das Bewusstsein der Sünde blieb; aber dennoch, welche Blicke lassen sie uns tun in das Wesen dieser Vorbilder, wie weisen sie uns hin auf den Körper dieser Schatten, auf Christus! „Der Körper aber ist Christi." (Kol. 2, 17.) So wie das Blut des „Bockes für Jehova" ins Heiligtum gebracht und auf den Gnadenstuhl gesprengt wurde, vor die Angesichter der Cherubs, sodass diese jetzt zwischen sich und dem gebrochenen Gesetz das Sühnungsblut erblickten, so ist Christus mit Seinem Blut in die Gegenwart Gottes, in den Himmel selbst, eingegangen, nachdem Er an der Stätte der Sünde, durch Seinen Tod am Kreuze, Gott im Blick auf die Sünde vollkommen verherrlicht hat. In Gleichgestalt des Fleisches der Sünde und für die Sünde gekommen, ist in Ihm dort die Sünde gerichtet worden und eine „ewige Erlösung" zustande gekommen.

Zugleich ist in jener Stunde, wie nie vorher und nachher, ans Licht getreten, wer Jesus und wer Gott ist. Zum Kreuze schreitend, konnte Er sagen: „Jetzt ist der Sohn des Menschen verherrlicht, und Gott ist verherrlicht in Ihm". (Joh. 13, 31.) Wer außer Ihm hätte die Verherrlichung Gottes mit der Ordnung der Frage der Sünde verbinden können? Indem Er sich zur Abschaffung der Sünde als Opfer dahingab, ist alles, was in Gott ist: Seine Majestät, Gerechtigkeit, Liebe, Gnade, Wahrheit, in herrlichster Weise zur Darstellung gebracht worden, und das Blut gibt jetzt auf immerdar Zeugnis davon im Heiligtum droben.

Man vergisst immer wieder, dass neben den persönlichen Verschuldungen der Menschen die Sünde als solche in der Welt ist und wie eine feindliche Macht zwischen Gott und der Welt steht. Weil sie durch den Fall des ersten Adam in die Welt gekommen ist, musste der letzte Adam sich zuallernächst mit ihrem Vorhandensein, bzw. mit der Entfernung der vorhandenen Sünde beschäftigen. Vergegenwärtigen wir uns diese Tatsache, so verstehen wir den jubelnden Ausruf Johannes' des Täufers: „Siehe, das Lamm Gottes, welches die Sünde der Welt wegnimmt!" sowie die Bedeutung der Worte in Hebr. 9, 26 : „Jetzt aber ist Er (Christus) einmal in der Vollendung der Zeitalter geoffenbart worden zur Abschaffung der Sünde durch Sein Opfer". Was der erste Mensch in die Welt gebracht hat, muss durch den zweiten wieder aus ihr entfernt werden. Ich wiederhole: Es handelt sich hier nicht um Sünden, nicht um Schuld, sondern um die Sünde als solche, als Grundsatz oder Element.

Nirgendwo heißt es in der Schrift, dass Christus die Sünden aller Menschen getragen habe; sie vermeidet diesen Ausdruck sorgfältig. Es kann auch nicht anders sein. Wie würde Gott sonst irgend einen Menschen zur Rechenschaft ziehen und richten können? Wäre die Schuld aller bezahlt, so könnte an niemand mehr eine Forderung gestellt werden.

Freilich hätte Gott, nachdem die Sünde in die Welt gekommen war, sich in Seiner Gerechtigkeit des Sünders entledigen können, indem Er ihn das Gericht für seine Schuld treffen ließ. Aber was wäre dann aus Seiner Liebe und aus Seinen Gnadenratschlüssen geworden? Wie hätte Er Seine Herrlichkeit als der Gott, der Licht und Liebe ist, aufrecht halten, wie die Sünde wieder aus Seiner Schöpfung entfernen können? Alles das konnte nur dadurch geschehen, dass das heilige Lamm Gottes in die Welt kam, die Sünde der Welt auf sich nahm, sich zur Sünde machen ließ und, indem Er das tat, alledem entsprach, was die Majestät des Thrones Gottes forderte. Nachdem das geschehen ist, hat sich der Thron des Gerichts in einen Gnadenstuhl verwandelt, die Gnade kann sich frei und ungehindert entfalten, und der Anbeter darf mit Freimütigkeit ins Heiligtum eintreten. Auf Grund des vollbrachten Sühnungswerkes kann nun auch aller Welt Gnade und Vergebung angeboten und jeder Sünder eingeladen werden, von der ganzen Fülle der Gnade Gebrauch zu machen. Das Blut ist vor Gottes Auge, und Er sagt: „Sehe ich das Blut, so werde ich vorübergehen".

Im Hinblick auf die kommende Sühnung konnte der heilige Gott vor dem Kreuze eine schuldige Menschheit in Nachsicht tragen, und im Rückblick auf das geschehene Werk kann Er heute in Langmut und Gnade handeln, Seine Sonne aufgehen lassen über Gute und Böse und den feindlichen Menschen den ganzen Schatz Seiner Gnadenreichtümer aufschließen. Allen Forderungen Seines Thrones ist entsprochen, was Ihm gebührte, „Jehovas Teil", ist Ihm geworden, die Taufe, von welcher Jesus in Luk. 12, 50 redet, ist vollbracht, und nun ist alle „Beengung" aufgehoben, der Strom der göttlichen Liebe kann seine Schleusen öffnen und sich ungehindert nach allen Seiten hin ergießen. Die Sünde ist gesühnt, Gott ist im Sohne verherrlicht, „der durch Gottes Gnade für alles den Tod schmeckte", und nun kann Gott Ihn wiederum verherrlichen und in Ihm und durch Ihn Seinen wunderbaren Heilsplan im Blick auf die ganze Schöpfung zur Darstellung und Ausführung bringen. Will das aber sagen, dass nun auch alle Menschen errettet werden und zur Erkenntnis der Wahrheit kommen, wie das nach 1. Tim. 2, 4 Gottes Wunsch und Wille ist? Damit kommen wir zu dem letzten Teil unseres Gegenstandes, zur Beantwortung der Frage: Was ist Stellvertretung?

Was ist Stellvertretung?

Es ist erstaunlich, wie wenig im Allgemeinen der Unterschied zwischen Sühnung und Stellvertretung beachtet und in seiner tiefgehenden Bedeutung verstanden wird. Die ernsten Folgen davon sind einerseits ein unklares, unbestimmtes Evangelium und andererseits eine mehr oder weniger große Unsicherheit oder gar Friedelosigkeit in den Herzen der Gläubigen. Solche Folgen lasten uns verstehen, wie wichtig es ist, jenem Unterschied nachzuforschen und auf Grund des Wortes Gottes festzustellen, was denn beide Worte wirklich bedeuten. Der Herr wolle uns bei dieser Untersuchung behilflich sein durch die Leitung Seines Heiligen Geistes!

Über „Sühnung" haben wir schon das eine und andere geredet. Das Wort „Stellvertretung" erweckt von vornherein den Gedanken an Einzelwesen, .an Personen, für die ein anderer eintritt, indem er ihre Rechte wahrnimmt oder, wie in dem vorliegenden Falle, ihre Verpflichtungen einlöst. Auf den Herrn Jesus und Sein Opfer angewandt, kann also im Blick auf die Schöpfung oder die Welt von einer „Stellvertretung" nicht geredet werden. Während hier der Gedanke einer geschehenen „Sühnung" durchaus am Platze ist, wäre „Stellvertretung" geradezu sinnlos. So lesen wir denn auch: „Er ist die Sühnung für unsere Sünden, nicht allein aber für die unseren, sondern auch für die ganze Welt". (1. Joh. 2, 2.) Der Gläubige darf sagen, dass alle seine Sünden gesühnt sind, und er kann hinzufügen, dass diese Sühnung in ihrem Werte und in ihrer Wirksamkeit sich auf die ganze Welt erstreckt, sodass jedermann, ob Jude, Heide, Mohammedaner oder Namenchrist, kommen und, gleich ihm, von derselben Gebrauch machen kann; ja, mehr noch, das ganze Weltall wird, wie wir in dem vorhergehenden Abschnitt gesehen haben, einmal die gesegneten Folgen dieses Sühnungswerkes genießen. Ganz falsch aber wäre es, wenn man aus den angeführten Worten den Schluss ziehen wollte, dass Christus die Sühnung der Sünden der ganzen Welt oder der ganzen Menschheit sei; Luther hat die Stelle wohl so verstanden, denn er übersetzt mit der Vulgata: „Nicht allein aber für die unseren, sondern auch für der ganzen Welt" („Sünden" nämlich). Aber diese Übersetzung ist unmöglich; sie stände auch mit der übrigen Belehrung des Wortes Gottes in unmittelbarem Widerspruch. Der Gedanke der Sühnung bzw. Entfernung der Sünden der Welt ist der Schrift völlig fremd.

- Nirgendwo lehrt sie, dass Christus alle Sünden getragen habe, oder mit anderen Worten, dass Er — und damit kommen wir zu der wahren Bedeutung des Wortes „Stellvertretung" — für die Vergehungen und Schulden aller Menschen haftbar gemacht worden sei und an der Stelle der Schuldigen die gerechte Strafe von feiten Gottes getragen habe. Wäre das geschehen, so könnte kein Mensch verloren gehen; Gott wäre ungerecht, wenn Er noch irgend eine Forderung an den Sünder stellen wollte; die Verdammnis wäre eine Fabel, die Lehre von einer ewigen Vergeltung eine Lüge usw. Wenn die Schrift von Sündenvergebung redet, so spricht sie immer nur von „vielen", niemals von „allen".

Zur Erläuterung des Begriffs „Stellvertretung" kann uns wiederum unser Kapitel (3. Mose 16) von großem Nutzen sein. Zwei Böcke mussten vor Jehova gestellt werden, aber nur das Blut des einen, für Jehova bestimmten Bockes wurde ins Heiligtum getragen und von dem Hohenpriester nach Gottes Anordnung dort verwandt. Von dem anderen heißt es: „Und der Bock, auf welchen das Los für Asasel (Abwendung) gefallen ist, soll lebendig vor Jehova gestellt werden, um auf ihm Sühnung zu tun, um ihn als Asasel fortzuschicken in die Wüste". Wenn dann Aaron die Sühnung des Heiligtums und des Zeltes der Zusammenkunft vollendet hatte, musste er den lebendigen Bock herzubringen. „Und Aaron lege seine beiden Hände auf den Kopf des lebendigen Bockes und bekenne auf ihn alle Ungerechtigkeiten der Kinder Israel und alle ihre Übertretungen nach allen ihren Sünden; und er lege sie auf den Kopf des Bockes und schicke ihn durch einen bereitstehenden Mann fort in die Wüste, dass der Bock alle ihre Ungerechtigkeiten auf sich trage in ein ödes Land; und er schicke den Bock fort in die Wüste." (V. 20—22.)

Wenn der Israelit den Hohenpriester, der mit dem Blute des ersten Bockes ins Heiligtum gegangen war, zurückkehren sah, so wusste er, dass das Opfer von Gott angenommen und Sühnung für das Heiligtum geschehen war. Mit anderen Worten: Die Wiederkehr des Hohenpriesters bewies, dass die Grundlage für das Wohnen Gottes inmitten Seines Volkes wieder für ein Jahr gelegt, dass Israels Beziehungen zu Jehova, seinem Gott, wieder bis zum nächsten Versöhnungstage gesichert waren. Die Sünde, welche dem entgegenstand, war gesühnt, Gottes Heiligkeit befriedigt.*) Wie aber stand es mit den vielen Vergehungen, mit den zahllosen Übertretungen der heiligen Gebote. Gottes, die auf den Gewissen der einzelnen Glieder des Volkes lasteten? War auch die Frage der „Sünde" Gottes Herrlichkeit entsprechend gerichtlich behandelt worden, von „Sünden" war bis dahin keine Rede gewesen. Würde Gott nur ein halbes Werk tun? Würde Er die Beantwortung der aus persönlicher Schuld hervorgehenden Fragen unerledigt lassen? Nein, Er tut nichts halb. Er führt alles herrlich hinaus.

*) So wird der gläubige jüdische Überrest am Ende der Tage erst dann wissen, dass seine Sache mit Gott geordnet unfeine vollgültige Sühnung geschehen ist, wenn er den wahren Hohenpriester, Christus, aus dem Heiligtum wiederkehren sieht mit den Wundenmalen, den Zeichen des vollbrachten Werkes, in Seinen Händen und Füßen. Er wird sehen und glauben, wie einst Thomas in Joh. 2V, 29. Wir, die Gläubigen aus den .Nationen, glauben, ohne gesehen zu haben, und werden vom Herrn deshalb „glückselig" gepriesen. Uns'.hat die Sendung des anderen Sachwalters, des Heiligen Geistes, bezeugt, dass " das Blut unseres Stellvertreters eine „ewige Erlösung" zustande gebracht hat.

Nach Erledigung der wichtigsten Frage, der Befriedigung der gerechten Forderungen des heiligen Gottes im Blick auf die Sünde, sollte auch die zweite, für den Menschen zunächst in Betracht kommende Frage: „Wie kann ich wissen, dass meine Sünden, für die ich verantwortlich bin und die mich verurteilen, vergeben sind?" voll und ganz beantwortet werden. Und wie geschah das? „Asasel", der Bock der Abwendung, gibt uns die Antwort.

Nachdem dieser vor Jehova gestellt war, musste der Hohepriester, der Stellvertreter Gottes und zugleich der Vertreter des ganzen Volkes, seine beiden Hände auf den Kopf desselben legen, so seiner völligen Einsmachung mit ihm Ausdruck gebend, und dann alle Ungerechtigkeiten der Kinder Israel und alle ihre Übertretungen nach allen ihren Sünden auf ihn bekennen. Alle Sünden, mochten es ungerechte Handlungen im allgemeinen Sinne oder Übertretungen bestimmter Gebote sein, wurden so in göttlicher Weise, nach einer durch Gott vermittelten Erkenntnis, auf das Opfertier gelegt und dann von diesem in die Wüste getragen, in ein ödes Land, wo niemand mehr ihrer gedachte. Der Bock der Abwendung (oder: der abwendet, davongeht), musste sie an Stelle der Übertreter auf sich nehmen und aus Gottes Gegenwart sowie aus den Augen der Kinder Israel hinwegtragen. Im Anschluss an die Darbringung des ersten Bockes, der geschlachtet und dessen Fleisch samt Haut und Mist „außerhalb des Lagers verbrannt" werden musste, diente dieser zweite Bock als Stellvertreter des schuldigen Volkes, bzw.. der einzelnen Glieder desselben, „nach allen ihren Sünden", um diese Hinwegzutun und so die anklagenden Gewissen der Schuldigen, wenn auch nur unvollkommen und zeitlich, zur Ruhe zu bringen. Selbstverständlich, ich betone es immer wieder, konnte das nur in Verbindung mit dem ersten Bock geschehen; beide bilden ein Opfer, denn „ohne Blutvergießung ist keine Vergebung". Das Blut ist das Zeugnis der Vollendung des ganzen Werkes' ohne Blut hätte der Hohepriester niemals ins Heiligtum eintreten dürfen. Aber so gewiss er dort eingetreten war, und nun alle Sünden Israels auf den Kopf des Bockes bekannte, so gewiss tat er jetzt auf ihm Sühnung für dieselben, sodass Gottes Auge sie nicht mehr sah.

So weit das Bild. Es redet in wunderbar eindringlicher und verständlicher Sprache von einem anderen, größeren Opfer. Was wir in jenem Bocke vorbildlich dargestellt sehen, ist in Christus zur Wahrheit, zum Wesen geworden. Der Schatten hat sich in die Wirklichkeit verwandelt. Zeigt uns der erste Bock Christus als Den, der für die Sünde Sühnung getan, der Gott im Blick auf sie verherrlicht und den Weg zu Ihm ins Heiligtum gebahnt hat, so erblicken wir in dem zweiten Bock Christus als den Stellvertreter Seines erlösten Volkes, als Den, der alle ihre Sünden getragen und für immer hinweggetan hat, sodass Gott ihrer nie mehr gedenkt und auch wir sie als für ewig getilgt betrachten dürfen. Der Gläubige darf sagen: Gott selbst hat alle meine Sünden, meine ganze unermessliche Schuld, nach Seiner göttlichen Kenntnis, (nicht nur so wie sie mir bekannt ist oder zum Bewusstsein kommt) auf Jesus gelegt, hat alle meine Ungerechtigkeiten und Übertretungen von meinem ersten bis zu meinem letzten 'Atemzüge auf Ihn gelegt, und Jesus hat sie an meiner statt getragen, hat meine Schuld gebüßt, und nun darf ich da ruhen, wo Gott mit Wonne ruht, in dem kostbaren Werke Seines geliebten Sohnes. Alle, alle meine Sünden sind vergeben auf gerechter, göttlicher Grundlage. „Mit einem Opfer hat Er auf immerdar vollkommen gemacht, die geheiligt werden" (Hebr. 10,14), sodass diese triumphierend fragen können: „Wer wird wider Gottes Auserwählte Anklage erheben? Gott ist es, welcher rechtfertigt; wer ist, der verdamme?" (Röm. 8, 33.)

Die Nichtbeachtung des Unterschiedes zwischen „Sühnung" und „Stellvertretung", oder die einseitige Betonung der einen ohne gebührende Berücksichtigung der anderen hat von jeher Anlass zu theologischen Streitigkeiten und ernsten Spaltungen gegeben. Die eine Richtung, den Begriff der Gnade verallgemeinernd, drückt darauf, dass Christus für alle gestorben ist, indem sie damit das Tragen der Sünden, die Stellvertretung, verbindet; die andere, nur auf das Werk Christi für die Seinigen hinweisend, beschränkt die Gnade, hebt die „Gnadenwahl" ungebührlich hervor und vergisst, dass Christus für alle gestorben ist. Die erste lehrt, dass, wenn Gott alle geliebt habe, Er nicht einige besonders lieben könne; das Ergebnis ist Ungewissheit im Blick auf die Errettung und vielfach ein Erheben des Menschen und seines Tuns. Die zweite lehrt, wenn Christus Seine Gemeinde geliebt und sich selbst für sie hingegeben habe, so könne es keine wirkliche Liebe für irgend etwas anderes geben, das Werk Christi sei nur für die Auserwählten geschehen; damit leugnet sie, dass Christus „sich selbst gab zum Lösegeld für alle", und vergisst, dass „Gott Ihn dargestellt hat zu einem Gnadenstuhl durch den Glauben an Sein Blut". (1. Tim. 2, 6; Röm. 3, 25.) Die erste setzt die Bedeutung des Bockes Asasel, die Stellvertretung, beiseite, die zweite lässt die Bedeutung des ersten Bockes, die Sühnung, außer acht, und sieht nichts als Stellvertretung. Beide Richtungen teilen also das Wort der Wahrheit nicht recht (vergl. 2. Tim. 2, 15) und kommen so zu einseitigen, falschen Ergebnissen.

Nach diesen allgemeinen Ausführungen bleibt uns noch übrig, die verschiedenen Stellen des Neuen Testamentes, die von unserem Gegenstand reden und noch nicht berührt sind, einer kurzen Betrachtung zu unterziehen. Es wird nicht nur unserem Verständnis über die in Rede stehenden Punkte zu Hilfe kommen, sondern uns auch weitere Einblicke tun lassen in das Werk Christi überhaupt und so Anbetung und Dank in unseren Herzen erwecken.

Wir haben schon mehrmals darauf hingewiesen, dass die Schrift niemals sage, dass der Herr Jesus die Sünden aller getragen habe. Bei der Einsetzung des Abendmahls sprach Er selbst nach Matth. 26, 28 in Verbindung mit dem Kelche die Worte: „Dieses ist mein Blut, das des neuen Bundes, welches für viele vergossen wird zur Vergebung der Sünden". (Vergl. Mark. 14, 24.) So lesen wir auch in Hebr. 9, 28, dass Christus einmal geopfert worden ist, um vieler (nicht aller) Sünden zu tragen.

An verschiedenen Stellen steht das Wort „alle" geradezu im Gegensatz zu dem Wort „viele" oder „die Vielen". So z. V. in Röm. 5, 18. 19: „Also nun, wie es durch eine Übertretung gegen alle Menschen zur Verdammnis gereichte, so auch durch eine Gerechtigkeit gegen alle Menschen zur Rechtfertigung des Lebens" — nicht dass alle gerechtfertigt werden, sondern die „Rechtfertigung des Lebens" richtet sich gegen alle, und zwar, wie wir sahen, auf Grund des vollendeten Sühnungswerkes. Sie ist für alle da, für alle erreichbar. Dann aber heißt es weiter: „Denn gleichwie durch des einen Menschen Ungehorsams die Vielen in die Stellung von Sündern gesetzt worden sind, so werden auch durch den Gehorsam des Einen die Vielen in die Stellung von Gerechten gesetzt werden". (Vergl. auch V. 15.) Warum die Veränderung? Aus dem einfachen Grunde, weil in beiden Fällen es sich wohl um viele Menschen handelt, (in dem ersten auch um alle, denn alle stammen von dem ersten Adam ab) in dem zweiten aber nicht um alle, sondern nur um diejenigen, welche mit dem letzten Adam verbunden sind.

Hierher gehört wohl auch das bekannte Wort aus Röm. 3: „Jetzt aber ist, ohne Gesetz, Gottes Gerechtigkeit geoffenbart worden . . . Gottes Gerechtigkeit aber durch Glauben an Jesus Christus gegen alle und auf alle, die da glauben". (V. 21. 22.) Während diese Gerechtigkeit gegen alle gerichtet ist, allen umsonst angeboten wird, kommt sie doch nur auf alle, die da glauben. Gott rechtfertigt nur den, der des Glaubens an Jesus ist. (V. 26.) Allen übrigen dient Sein gnädiges Anerbieten nur zu vermehrter Verantwortlichkeit, zu verschärfter Strafe. (Vergl. Matth. 11, 20—24, Luk. 12, 47. 48.)

Ein weiteres, sehr beachtenswertes Beispiel ist 1. Tim. 2, 3—6, verglichen mit Matth. 20, 28 und Mark. 10, 45. In der ersten Stelle nennt Paulus Gott „unseren Heiland-Gott, welcher will, dass alle Menschen errettet werden und zur Erkenntnis der Wahrheit kommen. Denn Gott ist einer, und einer Mittler zwischen Gott und Menschen, der Mensch Christus Jesus, der sich selbst gab zum Lösegeld für alle". Gott, der gerechte und rettende Gott (vergl. Jes. 45, 21) hat ein Mittel gefunden, durch welches allen Menschen geholfen werden kann, wenn sie sich desselben bedienen wollen. Ein Lösegeld ist bezahlt und von Gott angenommen worden, das für alle genügt und auch im Blick auf alle und zum Vorteil für alle bezahlt worden ist. Gott „will nicht, dass irgendwelche verloren gehen", sondern dass alle zur Buße und zur Erkenntnis der Wahrheit kommen. (Vergl. 2. Petr. 3, 9.) Aber geradeso wie zur Zeit des Herrn Jesus die Pharisäer und die Gesetzgelehrten „den Ratschluss Gottes in Bezug auf sich selbst wirkungslos machten", indem sie nicht Buße tun und ihre Sünden bekennen wollten, so weisen auch heute Millionen und abermals Millionen von Menschen die Gnade Gottes gleichgültig oder verächtlich von sich ab. Gott möchte sie erretten, aber „sie wollen nicht zu Ihm kommen, auf dass sie Leben haben". (Joh. 5, 40.)

Demgegenüber könnte man einwenden: Wenn aber ein Lösegeld für alle bezahlt worden ist, so müssen doch auch alle des Segens und der Wirkung dieses Löse- geldes teilhaftig werden. Ich antworte: Ja, in dem oben beschriebenen Sinne, dass es für alle da ist und von allen benutzt werden kann; nein, in dem Sinne, dass die Schulden aller dadurch getilgt worden wären und deshalb nicht mehr eingefordert werden könnten. Wir lesen darum auch in den beiden anderen Stellen (Mat. 20 und Mark. 10): „Der Sohn des Menschen ist gekommen . . . , um zu dienen und Sein Leben als Lösegeld zu geben für viele"; und der des Griechischen kundige Leser wird überrascht sein, bei einer Vergleichung zu finden, dass das an diesen beiden Stellen mit „für" übersetzte griechische Wort ein ganz anderes ist als in 1. Tim. 2, 6. Während es dort den Sinn hat von: „im Blick (in Hinsicht) auf, zum Vorteil von", hat es an den beiden Stellen in den Evangelien die bestimmte Bedeutung: „an Stelle von, in Stellvertretung für". Wie genau ist doch Gottes Wort! Kein Wort zu wenig und keines zu viel, und jedes Wort an seinem Platze!

Erinnert uns also 1. Tim. 2, 3—6 an die Bedeutung des ersten Bockes, an das allen Menschen, selbst der Schöpfung, zu gute kommende Sühnungs- werk Christi, so rufen uns die beiden anderen Stellen mit Macht die in dem zweiten Bock zum Ausdruck kommende Stellvertretung ins Gedächtnis zurück. Christus, der einzige Mittler zwischen Gott und Menschen, starb nicht nur für einen Teil der Menschheit, sondern für alle; aber stellvertretend setzte Er Sein Leben nur ein für viele, nur für die, die je an Ihn geglaubt haben oder noch an Ihn glauben werden, sei es in dem gegenwärtigen Haushalt der Gnade, oder in den zukünftigen Zeitaltern des Tausendjährigen Reiches. Nur ihre Sünden sind Ihm als die Seinigen angerechnet worden, nur ihre Schuld hat Er getilgt, und nur sie dürfen sagen, dass Er ihren Platz im Gericht vor Gott eingenommen hat, sodass Sein gegenwärtiger Platz zur Rechten Gottes wiederum auch ihr Platz ist.

Der Ausdruck „zum Lösegeld für alle" führt uns von selbst zu einer anderen ähnlichen Stelle in 2. Kor. 5.

Dort heißt es im 14. und 15. Verse: „Denn die Liebe des Christus drängt uns, indem wir also geurteilt haben, dass einer für*) alle gestorben ist und somit alle gestorben sind. Und Er ist für alle gestorben, auf dass die, welche leben, nicht mehr sich selbst leben, sondern Dem, der für sie gestorben ist und ist auferweckt worden". Wenn einer für alle sterben musste, so liegt darin, wie der Apostel sagt, der Beweis, dass alle gestorben bzw.. dem Tode verfallen sind. Anders hätte Christus nicht zu sterben brauchen. Sein Tod ist der Beweis des Todeszustandes aller Menschen. Und weshalb ist Er für alle gestorben? Um alle aus ihrem Todeszustande herauszuführen und zu erretten? Ja, so lag es in der Liebesabsicht Gottes, aber die Bosheit des Menschen hat sie durchkreuzt; deshalb kann der Apostel nur im Blick auf die, welche sich bitten und mit Gott versöhnen lassen (V. 20), hinzufügen: „auf dass die, welche leben, d. h. sich vom Tode haben erretten lassen, nicht mehr sich selbst leben usw." Sie gehören fortan nicht mehr sich selbst an, sondern dem für sie Gestorbenen und aus den Toten Auferstandenen. Die anderen bleiben im Tode, unter dem Zorne Gottes. (Joh. 3, 36.) Für sie ist Christus „umsonst gestorben".

Im Anschluss an die eben besprochenen Stellen sei noch auf Röm. 11, 32 hingewiesen, eine Stelle, die von den Anhängern der Wiederbringungslehre auch gern für ihre Zwecke ausgenutzt wird. Wir lesen dort: „Denn Gott hat alle zusammen in den Unglauben (od. Ungehorsam) eingeschlossen, auf dass Er alle begnadige".

— Da steht es doch unzweideutig, so ruft man triumphierend aus, dass alle Menschen begnadigt werden sollen! — Aber ist das der Sinn der Stelle? Sehen wir zu! Sie steht am Ende einer längeren Abhandlung des Apostels über die Wege Gottes mit Seinem irdischen Volke. Israel stand, obwohl es die natürlichen Zweige des Ölbaums der Verheißung und Segnung bildete und somit große Vorzüge vor den Heiden besaß, doch auf dem Boden des Gesetzes und hatte auf diesem Boden durch seinen Ungehorsam und Unglauben alle Anrechte an Segen und Leben verloren. Die Heiden, von Natur ungläubig und von Gott entfremdet, besaßen überhaupt keine Ansprüche, sie waren „ohne Gott und ohne Hoffnung in der Welt". (Eph. 2, 12.) Beide, Juden und Heiden, waren also vor Gott verloren, dem Gericht verfallen, und konnten nur auf dem Boden bedingungsloser Gnade Errettung finden. Es handelt sich hier also gar nicht um die Frage, ob alle Menschen errettet werden oder nicht, sondern einfach um das Ergebnis der Wege Gottes mit Israel und den Heiden, dass nämlich beide, als Gesamtheiten betrachtet, nunmehr „unter die Begnadigung gekommen sind". (V. 30. 31.) Darum preist auch der Apostel am Schluss seiner Beweisführung nicht etwa die überschwängliche Größe der Gnade Gottes, wie z. B. in Eph. 1 und 2 und anderen Stellen, sondern er rühmt die Tiefe des Reichtums Seiner Weisheit und Erkenntnis und fügt dann hinzu: „Wie unausforschlich sind Seine Gerichte und unausspürbar Seine Wege! Denn wer hat des Herrn Sinn erkannt, und wer ist Sein Mitberater gewesen?" (Vergl. V. 33—36.)

Eine weitere Stelle, die von den Wiederbringern zur Begründung ihrer Behauptungen oft angezogen wird, ist 1. Kor. 15, 20—28, vor allem der 22. Vers: „Denn gleichwie in dem Adam alle sterben, also werden auch in dem Christus alle lebendig gemacht werden". Wir brauchen kein Wort darüber zu verlieren, dass an dieser Stelle nur von der leiblichen Auferstehung, nicht aber von einem geistlichen Lebendigmachen die Rede ist. Was der Apostel im Anschluss an seine Widerlegung der Irrlehre, „dass es keine Auferstehung der Toten gebe" (V. 12), zunächst vorstellen will, ist die Tatsache, dass die Leiber der Verstorbenen auferstehen werden, und zwar kraft der Auferstehung Christi aus den Toten; denn der Tod ist das Teil aller Nachkommen Adams als solcher. Obwohl aber nun die Auferstehung der Toten eine Wahrheit ist, die alle Menschen unterschiedslos angeht, kann man doch in unserer Stelle das Wörtlein „alle" unmöglich von den Personen trennen, mit denen es jeweils in Verbindung steht. Die „alle" in Adams Fall umfassen die gesamte Nachkommenschaft Adams, das ganze Menschengeschlecht, die „alle" in Christi Fall notwendigerweise diejenigen, welche „in dem Christus find", Seine Familie. Wenn darüber noch irgend ein Zweifel bestehen könnte, so würde der nächste Vers ihn beseitigen, in welchem wir lesen: „Ein jeder aber in seiner eigenen Ordnung: der Erstling Christus, sodann die, welche des Christus sind bei Seiner Ankunft". Nur sie, und keine anderen, werden hier als diejenigen bezeichnet, die auf Grund Seiner Auferstehung aus den Toten „in Ihm lebendig gemacht" werden sollen. Werden denn die übrigen Toten nicht auferstehen? Ohne Frage; aber der Apostel denkt hier in so abgeschlossenem Sinne an die erste Auferstehung, die Auferstehung des Lebens, dass er die zweite, die Auferstehung des Gerichts, gar nicht erwähnt. Nur die das Gute getan haben sind des Herrn, nur für sie hat Er den Sieg erstritten.

Dass Christus auch der „Erstgeborene der Toten" (Offbg. 1, 6) ist, also Gewalt hat über die Toten überhaupt, indem Er dem Tode die Macht genommen hat, bleibt davon unberührt. In unserer Stelle wird diese Auferweckung der „übrigen der Toten" (Offbg. 20, 5) aber gar nicht genannt. Der Apostel fährt fort: „Dann das Ende, wenn Er das Reich dem Gott und Vater übergibt, wenn Er weggetan haben wird alle Herrschaft und alle Gewalt und Macht". (V. 24). Wenn dieses „Ende", die Übergabe des Reiches, in welchem Er regieren und richten wird, kommt, muss alles Gericht, jedenfalls also die Auferweckung der übrigen der Toten, vorüber sein. „Denn Er muss herrschen, bis Er alle Seine Feinde unter Seine Füße gelegt hat. Der letzte Feind, der weggetan wird, ist der Tod." (V. 25. 26.)

Die zweite Auferstehung, die Auferstehung „der übrigen der Toten", wird darum hier gar nicht erwähnt, sondern als selbstverständlich eingeschlossen betrachtet, als eine Handlung der richterlichen Gewalt, welche das Reich des Herrn kennzeichnet und in dem Hinwegtun des letzten Feindes, des Todes, ihren Abschluss finden wird. Er muss herrschen und alle Seine Feinde richten; darum wird die Auferstehung der Ungerechten, die dann nicht mehr unter der Macht des Todes und Satans liegen — denn beide werden in dem Feuersee ihr Ende bzw.. ihr ewiges Teil finden — von dem Herrn ausdrücklich eine Auferstehung des Gerichts genannt. Die aus den Toten auferstandenen Heiligen werden mit dem Sohne des Menschen verbunden sein, wenn Er kommt, um Sein Reich zu übernehmen, und die Bösen werden gerichtet werden, wenn Er die Herrschaft in die Hände des Vaters zurücklegt, um dann selbst Dem unterworfen zu sein, der Ihm alles unterworfen hat. Der ewige Zustand von Offenbg. 21, 1—8 wird dann angebrochen sein.

Wir schließen hiermit unsere Betrachtung. Der Herr selbst aber wolle Schreiber und Leser weiter einführen in die Erkenntnis Seines kostbaren Opfers, und uns alle bewahren vor den immer stärker auf uns eindringenden Einflüssen falscher Lehre und ungesunder Lehrer! Sein Wort an Philadelphia: „Halte fest was du hast!" gewinnt immer ernstere Bedeutung, je weiter die Dinge sich entwickeln und je näher wir dem Ziele kommen.


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