„Denn der Christus ist nicht eingegangen in das mit Händen gemachte Heiligtum, ein Gegenbild des wahrhaftigen, sondern in den Himmel selbst, um jetzt vor dem Angesicht Gottes für uns zu erscheinen; auch nicht, auf dass Er sich selbst, oftmals opferte, wie der Hohepriester alljährlich in das Heiligtum hineingeht mit fremdem Blut; sonst hätte Er oftmals leiden müssen von Grundlegung der Welt an; jetzt aber ist Er einmal in der Vollendung der Zeitalter geoffenbart worden zur Abschaffung der Sünde durch Sein Opfer. Und ebenso wie es den Menschen gesetzt ist, einmal zu sterben, danach aber das Gepicht, also wird auch der Christus, nachdem Er einmal geopfert worden ist, um Vieler Sünden zu tragen, zum zweiten Male denen, die Ihn erwarten, ohne Sünde erscheinen zur Seligkeit."
(Heb. 9, 24—28.)
Die obige Stelle aus dem neunten Kapitel des Hebräerbriefes führt uns drei wichtige Tatsachen aus der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft vor Augen, Tatsachen, die an und für sich von gleich großer Bedeutung sind, aber leider nicht alle in gleicher Weise beachtet und verstanden werden. Die Tatsachen sind folgende: 1) Der Herr Jesus ist einst in dieser Welt geoffenbart worden, um ein gewisses Werk zu vollbringen; 2) Er erscheint jetzt im Himmel, zwecks Ausübung eines gewissen Dienstes, und 3) Er wird erscheinen in Herrlichkeit, um Sein Werk zu krönen. Die erste dieser Tatsachen ist das Sühnungswerk, die zweite das Hohepriestertum, verbunden mit der Sachwalterschaft, und die dritte die Ankunft des Herrn. Lasst uns zuerst ein wenig verweilen bei dem Sühnungswerk.
Dieses Werk wird uns in unserer Stelle unter zwei großen Gesichtspunkten vorgestellt, erstens in Hinsicht darauf, was es in den Augen Gottes und für Gott ist, und zweitens in seiner Bedeutung für uns. Der Apostel erklärt, dass Christus geoffenbart worden sei „zur Abschaffung der Sünde", und ferner, „um Vieler Sünden zu tragen". Das ist eine Unterscheidung von der höchsten Wichtigkeit. Möchten wir sie mehr beachten! Christus hat sich selbst zum Opfer dargebracht, um die Sünde durch dieses Sein Opfer abzuschaffen. Er hat in Bezug auf die Frage der Sünde Gott im weitesten Maße verherrlicht. Hierbei handelt es sich ganz und gar nicht um Personen oder um die Vergebung der Sünden einzelner. Selbst wenn keine einzige Seele, von den Tagen Adams an bis zum gegenwärtigen Augenblick, die angebotene Gnade Gottes angenommen hätte, ja, wenn nie eine sie annehmen würde, würde die Tatsache doch bestehen bleiben, dass der Tod Christi die Sünde gesühnt, die Macht Satans vernichtet, Gott vollkommen verherrlicht und den ewig festen Grund gelegt hat, auf welchem die göttlichen Ratschlüsse alle zur Ausführung kommen können.
Hierher gehören auch die denkwürdigen Worte Johannes des Täufers: „Siehe, das Lamm Gottes, welches die Sünde der Welt wegnimmt". (Joh. 1, 29.) Das Lamm Gottes hat ein Werk vollbracht, kraft dessen jede Spur von Sünde von der Schöpfung Gottes weggewischt werden kann und soll. Es hat Gott vollkommen verherrlicht gerade auf dem Schauplatz, wo Er in so gröblicher Weise verunehrt und wo Seine Majestät so schmählich beschimpft worden war. Christus kam, um dies zu tun, mochte es kosten was es wollte, ja, selbst um den Preis des Opfers Seiner selbst. Er ward gehorsam bis zum Tode am Kreuze. Er hat ein Werk vollbracht, durch welches Gott unendlich mehr verherrlicht worden ist, als wenn die -Sünde nie in die Welt gekommen wäre. Es ist schon oft gesagt worden, dass Gott auf den Feldern der Erlösung eine weit reichere Ernte 'einsammeln wird, als es je auf den Feldern einer nicht gefallenen Schöpfung hätte geschehen können.
Der Leser wird gut tun, über diese wunderbare Seite des Sühnungstodes Christi nachzusinnen. Manche Gläubige meinen, der allerhöchste Begriff, den man von dem Kreuze haben könne, sei der, dass es die Frage der Vergebung unserer Sünden und unserer Errettung in Ordnung gebracht habe. Das ist ein großer Irrtum. Jene Frage ist, Gott sei dafür gepriesen! in göttlicher Weise am Kreuze geordnet worden; aber die Seite des Sühnungswerkes (ich möchte sie die menschliche Seite nennen) ist die geringere, Gottes Seite ist die größere. . Dass Gott verherrlicht werden sollte, war unendlich wichtiger, als dass wir errettet würden. Beide Zwecke sind, dem Herrn sei Dank! erreicht worden, und sie sind durch ein und dasselbe Werk erreicht worden, durch das kostbare Sühnungswerk Jesu Christi. Aber wir dürfen nie vergessen, dass die Verherrlichung Gottes von unendlich größerer Wichtigkeit ist, als die Errettung des Sünders; und ferner (nach dem Grundsatz, dass das Geringere stets in dem Größeren eingeschlossen ist,) werden wir nie ein so klares Verständnis von der zweiten Sache haben, als wenn wir sie ans der ersten hervorkommen sehen. Wenn wir wirklich einmal verstanden haben, dass Gott vollkommen und für immer im Tode Christi verherrlicht worden ist, dann können wir nicht verfehlen, auch die göttliche Vollkommenheit unserer Errettung zu erkennen. Tatsächlich sind beide so innig miteinander verbunden, dass sie nimmer getrennt werden können; aber dennoch muss Gottes Teil an dem Kreuze Christi immer seinen eigenen, besonderen Vorrang behalten.
Die Verherrlichung Gottes nahm zu aller Zeit den ersten Platz ein in dem ergebenen Herzen unseres Herrn Jesu Christi. Hierfür lebte, hierfür starb Er. Er kam in diese Welt zu dem ausdrücklichen Zweck, Gott zu verherrlichen; und von diesem großen und heiligen Gegenstände wich Er nie um eines Haares Breite ab. Wahr ist es, dass Er auf diesem Wege auch alles das geordnet hat, was uns betrifft; aber die Verherrlichung Gottes war und blieb von der Krippe bis zum Kreuze, im Leben und im Tode, Seine erste und höchste Richtschnur.
Auf dem Boden des durch Christus vollbrachten Sühnungswerkes, in dieser seiner höheren Beziehung betrachtet, hat Gott sich nun seit fast sechstausend Jahren in geduldiger Gnade, Barmherzigkeit und Langmut mit der Welt beschäftigt. Er sendet Seinen Regen und Seinen Sonnenschein auf Böse und Gute, auf Gerechte und Ungerechte. Der Ungläubige und der Gottesleugner leben, weben und sind kraft der durch den Sohn Gottes bewirkten Sühnung, obwohl Er von ihnen verachtet und verworfen wird; ja, den nämlichen Atemzug, mit welchem die Ungläubigen gegen die Offenbarung Gottes in Christus Einwürfe erheben und das Dasein Gottes leugnen, verdanken sie dem Sühnungstode Christi. Wir denken jetzt keineswegs an die Vergebung von Sünden oder an die Errettung der Seele. Das ist eine ganz andere Frage, auf welche wir nachher zu sprechen kommen werden. Nein, was wir meinen ist folgendes: Die Frage, wie der sündige Mensch in dieser Welt Leben und Bestehen haben könne, ja, wie die Welt selbst, in welcher er lebt, existieren könne, trotz der Sünde, welche sie befleckt, und der Heiligkeit Gottes, welche die Sünde nicht ungestraft lassen kann — diese Frage findet ihre einzige Beantwortung in dem Kreuze Christi. Das Kreuz bildet die Grundlage, auf welcher Gott mit beiden, mit Mensch und Welt, sich in Barmherzigkeit befassen kann.
Auf demselben Boden, auf Grund des Sühnungswerkes Christi, kann der Evangelist hingehen „in die ganze Welt und das Evangelium predigen der ganzen Schöpfung". Er kann die gesegnete Wahrheit verkündigen, dass Gott in Bezug auf die Sünde vollkommen verherrlicht worden ist, dass alle Seine Ansprüche befriedigt sind, dass Seine Majestät behauptet, Seine Wahrheit ans Licht gestellt, ja, dass alle Seine Eigenschaften miteinander in Einklang gebracht worden sind. Er kann die kostbare Botschaft bringen, dass Gott gerecht sein und den Gottlosen rechtfertigen kann, der an Jesus Christus glaubt. Da gibt es kein Hindernis, keine Schranken mehr. Der Prediger des Evangeliums braucht sich nicht hindern und beschränken zu lassen durch irgendwelche Lehrsätze der Theologie. Er hat es zu tun mit dem weiten, liebenden Herzen Gottes, welches, kraft des Sühnungswerkes, sich der ganzen Schöpfung, die unter dem Himmel ist, frei und ungehindert öffnen kann. Er darf jedem Sünder ohne Rückhalt sagen: „Komm!" Ja, mehr als das; er ist verpflichtet, ihn zu „bitten" zu kommen. „Nötige sie, hereinzukommen, auf dass mein Haus voll werde." (Luk. 14, 23.) „Wir bitten an Christi Statt: Lässt euch versöhnen mit Gott!" (2. Kor. 5, 20.) Das ist die richtige Sprache des Herolds des Kreuzes, des Gesandten Christi. Er kennt kein kleineres Feld als die weite Welt; und sein Auftrag richtet sich an die ganze Schöpfung, die unter dem Himmel ist.
Und warum? Weil Christus „einmal geoffenbart worden ist zur Abschaffung der Sünde durch Sein Opfer". Er hat durch Seinen Tod völlig den Boden verändert, auf welchem Gott sich mit dem Menschen und mit der Welt befassen kann. Anstatt auf dem Boden der Sünde mit ihnen verkehren zu müssen, kann Er sich mit ihnen beschäftigen auf Grund einer vollbrachten Versöhnung.
Endlich wird auch durch das Sühnungswerk, von diesem erhabenen Gesichtspunkt aus betrachtet, dereinst jedes Überbleibsel der Sünde, jede Spur der Schlange, von dem weiten Weltall Gottes abgewischt werden. Dann wird die ganze Kraft der bereits angeführten Stelle erkannt werden: „Siehe, das Lamm Gottes, welches die Sünde der Welt wegnimmt"; wie auch jene wohlbekannten Worte des Apostels: „Es war das Wohlgefallen der ganzen Fülle, in Ihm zu wohnen und durch Ihn alle Dinge mit sich zu versöhnen — indem Er Frieden gemacht hat durch das Blut Seines Kreuzes — durch Ihn, es seien die Dinge auf der Erde oder die Dinge in den Himmeln." (Kol. 1, 19. 20.)
Soviel über das, was wir wohl den ersten Gesichtspunkt des Sühnungstodes Christi nennen dürfen. Herrschte hierüber ein klareres Verständnis, so würde manche Schwierigkeit und mancher Irrtum in Bezug auf die volle und freie Predigt des Evangeliums aus dem Wege geräumt werden. Manche Knechte des Herrn fühlen sich in der Verkündigung der frohen Botschaft des Heils dadurch behindert, dass sie nicht gelernt haben, das Sühnungswerk unter diesem weiten Gesichtspunkt zu betrachten. Sie beschränken den Tod Christi in seiner Anwendung auf die Sünden der Auserwählten Gottes, und halten es demgemäß für unrichtig, das Evangelium allen zu verkündigen und alle einzuladen, zu Jesu zu kommen.
Nun, dass Christus für die Auserwählten starb, darüber belehrt uns die Schrift deutlich an vielen Stellen. Aber sie lehrt mehr als das. Sie erklärt, dass Er „für alle gestorben sei" (2. Kor. 5, 14), dass „Er für alles (oder jeden) den Tod geschmeckt habe". (Hebr. 2, 9.) und wenn Gottes Wort so redet, dann haben wir kein Recht, daran zu deuteln, etwas hinzuzufügen oder abzutun, um so die Belehrungen Gottes mit irgendeinem menschlichen Lehrsystem in Übereinstimmung zu bringen. Wenn die Schrift sagt, dass Christus für alle gestorben sei, so haben wir einfach Gottes Wort so anzunehmen, wie es dasteht, und uns ehrfurchtsvoll vor seiner Belehrung zu beugen. Gottes Wort, Gottes Herz und Gottes Natur sind viel zu tief, weit und umfassend, als dass sie von irgend einem theologischen System, und sei es auch das weitherzigste und bestangeordnete, umschlossen werden könnten. Wir dürfen nicht vergessen, dass Gott Liebe ist, und dass diese Liebe sich allen gegenüber, ohne Einschränkung, kundtun will. Sicherlich hat Gott Seine Ratschlüsse, Seine Absichten und Vorsätze; aber nicht diese sind es, die Er dem armen, verlorenen Sünder vorstellt. Nein, über solche Dinge will Er Seine Heiligen belehren; aber dem schuldigen, mühseligen und beladenen Sünder stellt Er Seine Liebe und Gnade vor, sowie Seine Bereitwilligkeit, zu erretten, zu vergeben und zu segnen.
Lasst uns ferner daran denken, dass der Sünder für das verantwortlich ist, was geoffenbart, nicht aber für das, was verborgen ist. Gottes Ratschluss ist ein Geheimnis; Seine Natur, Sein Charakter, Er selbst ist geoffenbart. Der Sünder wird nicht dafür gerichtet werden, dass er etwas verworfen hat, zu dessen Erkennen er nicht die nötigen Mittel besaß. „Dies aber ist das Gericht, dass das Licht in die Welt gekommen ist, und die Menschen haben die Finsternis mehr geliebt als das Licht, denn ihre Werke waren böse." (Joh. 3, 19.)
Noch einmal denn, Gottes herrliche Gnadenbotschaft gilt allen, ist in die ganze Welt gesandt. Jeder, der sie vernimmt, ist eingeladen zu kommen. Dies gründet sich auf die Tatsache, dass das Sühnungsblut Christi geflossen und in die Gegenwart Gottes gebracht worden ist, dass die Schranke, welche durch die Sünde aufgerichtet war, nieder- gerissen und zerstört worden ist, und dass jetzt der mächtige Strom der göttlichen Liebe frei ausströmen kann zu jedem, auch dem allerschlechtesten Sohne der Menschen. Und wenn nun irgendjemand durch die Gnade dahin geleitet wird, sein Herz dieser Botschaft zu öffnen, so kann ihm weitergesagt werden, dass Christus nicht nur die Frage der Sünde geordnet, sondern dass Er auch seine Sünden getragen hat, die Sünden aller derer, welche je an Seinen Namen geglaubt haben oder glauben werden.
Das ist die klare und einfache Lehre von Hebr. 9, 26 u. 28. Ein auffallendes Vorbild hiervon erblicken wir in den zwei Böcken von 3. Mose 16. Wenn der Leser für einen Augenblick seine Aufmerksamkeit diesem Kapitel zuwenden will, so wird er dort zuerst den geschlachteten Bock finden, und zweitens Asasel, den Bock der Abwendung. Das Blut des geschlachteten Bockes wurde in das Heiligtum gebracht und hier auf und vor den Deckel der Bundeslade gesprengt. In diesem Bock haben wir ein Vorbild von Christus, als „einmal geoffenbart zur Abschaffung der Sünde durch Sein Opfer". Dann bekannte der Hohepriester, als Vertreter der Versammlung Israel, alle Sünden und Ungerechtigkeiten der Kinder Israel auf den Kopf des zweiten Bockes, Asasel, und sie wurden fortgetragen in ein ödes Land. Das war ein Vorbild von Christus als Dem, der die Sünden der Deinigen getragen und hinweggetan hat. Die beiden Böcke, zusammengenommen, geben uns ein vollständiges Bild von dem Sühnungswerk Christi, welches, gleich der Gerechtigkeit, von der in Röm. 3 die Rede ist, wohl gerichtet ist „gegen alle", aber seine Anwendung findet „auf alle, die da glauben".
Alles das ist höchst einfach; ja, es ist so einfach und klar, wie Gott es nur machen kann. Wer irgend die Botschaft von Gottes freier Liebe vernimmt, ist gebunden, sie aufzunehmen; und das Gericht wird sicherlich alle erreichen, welche die dargebotene Gnade zurückweisen oder „eine so große Errettung vernachlässigen". Keine einzige Seele wird an jenem Tage sagen können: „Ich konnte nicht glauben, weil ich nicht einer von den Aus- erwählten war, und weil mir die Kraft versagt wurde, zu glauben". Niemand wird dann wagen, so etwas nur zu denken. Nein, ein jeder ist verantwortlich, das ihm angebotene Heil anzunehmen, und wer es ausschlägt, wird' die furchtbaren Folgen davontragen müssen. Der Herr Jesus wird vom Himmel geoffenbart werden und „Vergeltung geben denen, die Gott nicht kennen, und denen, die dem Evangelium unseres Herrn Jesu Christi nicht gehorchen". (2. Thess. 1, 7. 8.) Sollte wohl jemand dafür gestraft werden, dass er dem Evangelium nicht gehorcht hat, wenn er nicht verantwortlich wäre, jenen Gehorsam zu leisten? Sicherlich nicht. „Sollte der Richter der ganzen Erde nicht recht tun?"
Aber, so wendet der Verstand ein, sendet Gott den Menschen Sein Evangelium denn nur zu dem Zweck, um sie unter Verantwortlichkeit zu stellen und ihre Schuld zu vermehren? Fern sei uns ein solch ungeheuerlicher Gedanke! Er sendet Sein Evangelium dem verlorenen Sünder, auf dass er errettet werde; denn Gott „hat kein Gefallen an dem Tode des Gesetzlosen", Er „will nicht, dass irgendwelche verloren gehen, sondern dass alle zur Buße kommen". Ja, der Apostel Paulus nennt Ihn den „Heiland-Gott, welcher will, dass alle Menschen errettet werden und zur Erkenntnis der Wahrheit kommen". Vergl. Hes. 18, 23; 2. Petr. 3, 9; 1. Tim. 2, 4. Deshalb werden alle, die verloren gehen, niemanden als sich selbst anzuklagen haben.
Der Herr wolle allen meinen Lesern ein klares Verständnis geben über das, was das Sühnungswerk Christi denen, welche einfältig auf Ihn trauen, gebracht hat! Liegt auch das volle Ergebnis dieses Werkes hinsichtlich der Abschaffung der Sünde noch in der Zukunft, so dürfen wir doch sagen, dass für den Gläubigen die Sünde abgeschafft ist durch das Opfer Christi; ferner hat Christus an Seinem eigenen Leibe alle unsere Sünden auf dem Kreuze getragen. Unmöglich kann daher noch irgendeine Frage hinsichtlich Sünde oder Schuld je erhoben werden. Alles ist ein für allemal durch den Sühnungstod des Lammes Gottes in Ordnung gebracht. Wahr ist es, dass wir noch das Fleisch an uns haben; und wir müssen deshalb täglich und stündlich uns und unsere Wege richten. Ja, solange wir in diesem Leibe wallen, wird das Wort stets von uns gelten, dass „in uns, das ist in unserem Fleische, nichts Gutes wohnt". Aber diese Tatsache, so ernst sie ist, berührt keineswegs die Frage der völligen und ewigen Annahme unserer Seelen.
Wenn es anders wäre, könnte Christus nicht da sein, wo Er jetzt ist. Denn Er ist in die Gegenwart Gottes eingegangen, um dort für uns zu erscheinen. Dies führt uns zu dem zweiten Abschnitt unserer Betrachtung, zu dem Hohenpriestertum und der Sachwalterschaft Christi.
Sehr viele Seelen sind geneigt, zwei Dinge miteinander zu vermengen, welche, obwohl untrennbar verbunden, doch durchaus verschieden sind. Indem sie die göttliche Vollkommenheit des Versöhnungswerkes nicht verstehen, erwarten sie von dem Hohenpriestertum und der Sachwalterschaft Christi das, was die Sühnung bereits vollbracht hat. Wie bereits gesagt, befinden wir uns, obwohl wir unserer Stellung nach nicht im Fleische, sondern im Geiste sind, was unseren tatsächlichen Zustand angeht, noch im Leibe. Wir sind in Christus in die himmlischen Oerter versetzt, befinden uns aber in Wirklichkeit noch in der Wüste, sind allen Arten von Schwachheiten unterworfen und fähig, in mancherlei Weise zu fehlen und zu irren.
Nun, um diesem unserem gegenwärtigen Zustande und seinen Bedürfnissen zu begegnen, ist das Priestertum und die Sachwalterschaft Christi da. Gott sei gepriesen für diese gesegnete Vorsorge! Als solche, welche im Leibe sind und sich auf dem Wege durch die Wüste befinden, bedürfen wir einen großen Hohenpriester, um uns allezeit in dem Werte Seiner Person und Seines Werkes vor Gott zu vertreten und die Verbindung zwischen uns und dem Vater aufrecht zu erhalten oder sie wiederherzustellen, wenn sie gestört ist. Einen solchen Hohenpriester besitzen wir, und Er lebt immerdar, um sich für uns zu verwenden. Ohne Ihn könnten wir nicht einen Augenblick aus- oder weiterkommen.
Das Sühnungswerk wird nie wiederholt, das Werk des Hohenpriesters und Sachwalters nie unterbrochen. Wenn einmal durch die Macht des Heiligen Geistes das Blut Christi auf die Seele Anwendung gefunden hat, so geschieht das nie wieder. An eine Wiederholung ist nicht zu denken; denn das würde heißen, die Wirksamkeit des Blutes leugnen und es auf eine Stufe stellen mit dem Blute von Stieren und Böcken. Man hört und liest oft von einer immer wiederkehrenden Anwendung des Blutes auf den Gläubigen. Wer so redet, meint vielleicht, damit dem Mute Christi Ehre zu erweisen, und der eigenen, tiefgefühlten Unwürdigkeit Ausdruck zu verleihen; aber fürwahr, der beste Weg, dem Blute Christi Ehre zu erweisen, ist der, dass wir uns in dem erfreuen, was es für unsere Seelen getan hat; und die beste Weise, unsere eigene Unwürdigkeit darzutun, ist, stets dessen eingedenk zu sein, dass wir so schlecht waren, dass nichts als der Tod des heiligen, fleckenlosen Lammes Gottes uns zu erretten vermochte. Wir waren so unrein und sündig, dass nichts als Sein Blut uns reinigen konnte; aber so kostbar ist auch dieses Blut, dass nicht eine Spur von unserer Schuld zurückgeblieben ist. „Das Blut Jesu Christi, des Sohnes Gottes, reinigt uns von aller Sünde."
So steht es mit dem echten Kinde Gottes. Alle Sünde ist hinweggetan. Nicht eine Spur von Schuld ist zurückgeblieben. Jesus weilt in der Gegenwart Gottes für uns.' Er ist dort als unser Hoher- priester vor Gott, als unser Sachwalter bei dem Vater. *) Der Leser wird mit Interesse bemerken, dass in dem Briefe an die Hebräer nur vom Priestertum die Rede ist; in dem ersten Briefe des Johannes finden wir dagegen die Sachwalterschaft. Offenbar besteht zwischen diesen beiden Dingen ein Unterschied; wir können uns aber jetzt nicht weiter dabei aufhalten und möchten nur bemerken, dass von dem Priestertum in Bezug auf Gott gesprochen wird, von der Sachwalterschaft in Bezug auf den Vater.
Er hat durch Seinen Sühnungstod den Vorhang zerrissen und uns Gott nahegebracht; und jetzt lebt Er dort, um uns durch Seine Verwendung in dem Genuss der Stellung und der Vorrechte zu erhalten, in welche Sein Blut uns eingeführt hat.
In Übereinstimmung damit sagt der Apostel: „Wenn jemand gesündigt hat — wir haben einen Sachwalter bei dem Vater, Jesus Christus, den Gerechten". Beachten wir es wohl. Es heißt nicht: „wir haben das Blut", sondern: „wir haben einen Sachwalter". Das Blut hat sein Werk getan und ist allezeit vor Gott nach dem vollen Werte, den es in Seinen Augen hat. Seine Wirksamkeit bleibt stets unveränderlich. Aber wir haben gesündigt, vielleicht nur in Gedanken; doch schon dieser Gedanke genügt, um unsere Gemeinschaft mit dem Vater zu unterbrechen. Hier nun beginnt das Wirken der Sachwalterschaft. Wenn Jesus nicht stets im Heiligtum droben für uns tätig wäre, so würde unser Glaube schwach werden in Augenblicken, wo wir der Stimme des Fleisches nachgegeben haben und nun zur Erkenntnis des Geschehenen kommen. So war es mit Petrus in jener schrecklichen Stunde seiner Versuchung und seines Falles. Der Herr hatte kurz vorher zu ihm gesagt: „Simon, Simon! siehe, der Satan hat euer begehrt, euch zu sichten wie den Weizen. Ich aber habe für dich gebetet, auf dass dein Glaube nicht aufhöre; und du, bist du einst zurückgekehrt, so stärke deine Brüder." (Luk 22, 31. 32.)
Der Leser wolle diese Worte wohl beachten: „Ich habe für dich gebetet, auf dass dein Glaube nicht aufhöre!" Der Herr bat nicht, dass Sein schwacher Jünger überhaupt nicht versucht werde (die Versuchung war nötig, um ihn von seinem Selbstvertrauen zu heilen und für seinen späteren Dienst auszurüsten), sondern dass, nachdem er gefallen sei, sein Glaube nicht aufhören möchte. Hätte Christus nicht für Seinen armen Knecht gebetet, so wäre es mit ihm von Schlimmem zu immer Schlimmerem gekommen; aber die Fürbitte Christi verschaffte Petrus die Gnade wahrer Buße, wahren Selbstgerichts und bitteren Schmerzes über seine schwere Sünde, sowie endlich eine völlige Wiederherstellung seines Herzens und Gewissens, so dass der Strom der Gemeinschaft, der durch die Sünde unterbrochen, aber durch die Sachwalterschaft wiederhergestellt worden war, dahinfließen konnte wie vordem.
So ist es mit uns, wenn wir, aus Mangel an jener heiligen Wachsamkeit, deren wir uns immer befleißigen sollten/ sündigen. Jesus vertritt uns vor Gott. Er verwendet sich für uns; und durch die Wirksamkeit Seiner priesterlichen Vermittlung werden wir überführt und zum Selbstgericht und zur Wiederherstellung gebracht. So gründet sich in dieser Beziehung alles auf Seinen Dienst als Sachwalter, und die Sachwalterschaft gründet sich auf das vollendete Sühnungswerk.
Es mag gut sein, hier noch einmal darauf hinzuweisen, dass es das Vorrecht jedes Gläubigen ist, nicht zu sündigen. Es ist keine Notwendigkeit vorhanden, dass ein Christ sündigen sollte. „Meine Kinder", sagt der Apostel, „ich schreibe euch dieses, auf dass ihr nicht sündiget". Das ist eine höchst kostbare Wahrheit für alle, welche die Heiligkeit lieben. Wir brauchen nicht zu sündigen. Der natürliche Mensch ist ein Sklave Satans, ein Knecht der Sünde. Der Christ ist aber aus Satans Macht und von der Herrschaft der Sünde befreit; wenn er also sündigt, so hat er keinerlei Entschuldigung. Möchten wir dessen stets eingedenk sein!
„Jeder, der aus Gott geboren ist, tut nicht Sünde, denn sein Same bleibt in ihm; und er kann nicht sündigen, weil er aus Gott geboren ist." (1. Joh. 3, 9.) Das ist der göttliche Begriff von einem Menschen, der aus Gott geboren ist. Leider verwirklichen wir ihn nicht immer, aber das ändert nichts an der kostbaren Wahrheit. Die göttliche Natur, der neue Mensch, das Leben Christi in dem Gläubigen, kann unmöglich sündigen; und es ist das Vorrecht jedes Gläubigen, so zu wandeln, dass nichts als das Leben Christi an ihm gesehen werde. Der Heilige Geist wohnt in dem Gläubigen, auf Grund der Erlösung, um den Wünschen der neuen Natur Kraft und Wirkung zu verleihen, damit das Fleisch im Tode gehalten werde und nur Christus in dem Leben des Gläubigen zu Tage trete.
Es ist von der größten Wichtigkeit, dass dieser göttliche Begriff von dem Leben eines Christen klar von uns erfasst und festgehalten werde. Man hört häufig die Frage: „Ist es für einen Christen möglich zu leben, ohne zu sündigen?" Wir antworten in der Sprache des Apostels Johannes: „Meine Kinder, ich schreibe euch dieses, auf dass ihr nicht sündiget". (1. Joh. 2, 1.) Oder in der des Apostels Paulus: „Wir, die wir der Sünde gestorben sind, wie sollen wir noch in derselben leben?" (Röm. 6, 2.) Gott betrachtet den Christen für der Sünde gestorben; und so verleugnet dieser, wenn er ihr zu wirken erlaubt, praktisch seine Stellung in einem auserstandenen Christus. „Wenn aber jemand gesündigt hat (es sollte eigentlich nie vorkommen, aber wenn es nun doch einmal geschieht) — wir haben einen Sachwalter bei dem Vater, Jesus Christus, den Gerechten. Und Er ist die Sühnung für unsere Sünden, nicht allein aber für die unseren, sondern auch für die ganze Welt."
Das gibt dem Werke, auf welchem unsere Seelen ruhen, eine wunderbare Vollkommenheit. Kraft dieses Werkes haben wir einerseits einen Sachwalter bei uns, den Heiligen Geist, der auch in uns wohnt und wirkt, auf dass wir nicht sündigen, und andererseits haben wir einen Sachwalter bei dem Vater, Jesus Christus, den Gerechten, wenn jemand sündigt. Von dem Ersteren spricht der Herr in Joh. 14, 16, wenn Er zu Seinen Jüngern sagt: „Und ich werde den Vater bitten; und Er wird euch einen anderen Sachwalter geben, dass Er bei euch sei in Ewigkeit." So ist denn eine göttliche Person hienieden für uns tätig, und eine andere göttliche Person ist im Himmel für uns beschäftigt; und alles das auf Grund des Sühnungstodes Christi.
Aber, möchte der Leser wieder einwenden, ist es nicht gefährlich, so zu reden? Könnte das nicht zu einer gewissen Leichtfertigkeit der Sünde gegenüber führen? Das sei ferne! Wir haben bereits erklärt und bestehen durchaus darauf, dass es möglich ist, in solch ununterbrochener Gemeinschaft mit Gott zu leben, so in dem Geiste zu wandeln und so von Christus erfüllt und mit Ihm beschäftigt zu sein, dass das Fleisch oder der alte Mensch sich nicht geltend machen können. Wohl wissen wir, dass dies nicht immer der Fall ist. „Wir alle straucheln oft", sagt Jakobus. Aber keine recht gesinnte Person, niemand, der die Heiligkeit liebt, kein geistlicher Christ wird irgendwie denen zustimmen, welche sagen, dass wir sündigen müssen. Gott sei Dank! es ist nicht so. Die Sünde herrscht nicht mehr über uns. (Vergl. Röm. 6, 14.) Aber dennoch, welche Gnade ist es, geliebter Leser, zu wissen, dass, wenn wir fehlen, einer zur Rechten Gottes weilt, der das zerrissene Band der Gemeinschaft wiederherzustellen bemüht ist! Und wodurch tut Er dies? Dadurch dass Er durch Seinen in uns wohnenden Geist, jenen „anderen Sachwalter", vermittelst des Wortes, das Gefühl in unseren Seelen wachruft, dass wir gefehlt haben, und uns zu einem wahren, aufrichtigen Bekennen des Verkehrten führt, worin es auch bestehen möge.
Wir reden von einem „wahren, aufrichtigen Bekennen"; denn das wird es sein, wenn es anders die Frucht des Werkes des Geistes in unseren Herzen ist. Es ist nicht ein leichtes, flüchtiges Sagen: „ich habe gesündigt", woraus dann ebenso leicht und flüchtig wieder die Sünde folgt. Das ist kein Bekennen, sondern ein höchst trauriges und gefährliches Tun. Ja, wir kennen nichts, was mehr dazu angetan wäre, das Herz zu verhärten und zu verderben, als dies. Es führt unfehlbar zu den traurigsten Folgen. Wir haben Fälle gekannt, wo Personen in der Sünde lebten, von Zeit zu Zeit mit einem Lippenbekenntnis vor Gott kamen und dann hingingen und die Sünde wieder und wieder begingen; und dies ging so voran, Monate und Jahre lang, bis Gott in Seiner Treue dafür sorgte, dass die Sache vor anderen offenbar wurde.
Das ist eine höchst traurige, ja, schreckliche Sache. Es ist Satans Weife, das Herz zu verhärten und zu betrügen. O, dass wir dagegen auf der Hut fein und uns ein zartes Gewissen bewahren möchten! Wir dürfen versichert sein: wenn ein aufrichtiges Kind Gottes sich zur Sünde hat verleiten lassen und nun zur Einsicht kommt, so wird der Heilige Geist in ihm ein solches Gefühl über die Sünde erwecken, einen solchen Ekel vor sich selbst und einen solchen Abscheu vor dem Bösen Hervorrufen, dass- es nicht leichtfertig hingehen und die Sünde wieder begehen kann. Dies können wir den Worten des Apostels entnehmen, wenn er sagt: „Wenn wir unsere Sünden bekennen, so ist Er treu und gerecht, dass Er uns die Sünden vergibt und" — beachten wir wohl diese wichtigen Worte! — „uns reinigt von aller Ungerechtigkeit". Hier haben wir die kostbare Frucht der Sachwalterschaft. Wenn jemand sündigt, so verwendet sich der hochgelobte Vermittler droben bei dem Vater, bringt als „der Gerechte" gleichsam die vollen Verdienste Seines Sühnungswerkes in Erinnerung und bittet für den Strauchelnden auf Grund dessen, dass Er das Gericht für jene Sünde getragen hat. Andererseits wirkt der Heilige Geist, der andere Vermittler, hienieden in dem Gewissen des Gläubigen, ruft Buße und Bekenntnis hervor und bringt die Seele ins Licht zurück; hier empfängt sie dann das süße Gefühl, dass die Sünde vergeben, die Ungerechtigkeit hinweggetan und die Gemeinschaft wiederhergestellt ist.
Viele finden eine Schwierigkeit darin, den Gedanken einer fortwährenden Fürsprache mit der Tatsache in Einklang zu bringen, dass ein vollkommenes Sühnungswerk geschehen ist. „Wenn", sagen sie, „die Sühnung vollkommen ist, was brauchen wir dann noch Fürsprache? Wenn der Gläubige durch das Blut Christi vollkommen gerechtfertigt ist, so dass der Heilige Geist in seinem Herzen wohnen kann, wozu hat er dann noch einen Priester nötig? Wenn Christus durch' e i n Opfer auf immerdar alle vollkommen gemacht hat, die geheiligt werden, wie bedürfen dann diese Vollkommenen und Geheiligten noch eines Sachwalters? Entweder muss man also an eine unvollkommene Sühnung denken, oder die Notwendigkeit eines Sachwalters in Abrede stellen."
So überlegt der menschliche Verstand; aber so urteilt nicht der Glaube. Wohl belehrt uns die Schrift darüber, dass der Gläubige vollkommen gerechtfertigt ist, dass er begnadigt ist in dem Geliebten, dass er nie ins Gericht kommen kann, dass, er nicht im Fleische, sondern im Geiste, nicht ein Glied des ersten, sondern des letzten Adam iss; dass er der Sünde, der Welt und dem Gesetz gestorben ist usw. Alles das ist wahr; aber dann muss noch ein anderer Gesichtspunkt in Rechnung gezogen werden. Obwohl nicht mehr im Fleische, ist der Christ doch noch im Leibe. Obwohl seiner Stellung nach in Christus, ist er tatsächlich doch noch in der Welt; und er ist hier von alten Arten von Versuchungen und Schwierigkeiten umgeben, ist in sich selbst nur ein armes, schwaches Geschöpf, in welchem (das ist in seinem Fleische) nichts Gutes wohnt.
Er ist gerettet, Gott sei Dank! und alles ist für ewig in Ordnung gebracht; aber als Erretteter muss er durch die Wüste pilgern, muss. Fleiß anwenden, um in Gottes Ruhe einzugehen usw. Hier ist es, wie schon weiter oben gesagt, wo das Priestertum einsetzt. Der Zweck des Priestertums ist nicht, das Sühnungswerk zu vollenden; dieses Werk ist geradeso vollkommen wie Der, welcher es vollbracht hat. Aber um durch alle Gefahren der Wüste Hindurch in die Ruhe gebracht zu werden, welche dem Volke Gottes noch bleibt, haben wir einen großen Hohenpriester nötig, der durch die Himmel gegangen ist, Jesus, den Sohn Gottes. Seine Zuneigung und Hilfe sind unser, und wir könnten ohne sie nicht einen Augenblick sein. Durch Seinen Dienst im himmlischen Heiligtum hält Er uns Tag für Tag aufrecht. Er hat Mitgefühl mit uns in unseren Schwachheiten; Er bittet für uns, wenn uns Gefahren und Versuchungen drohen; Er richtet uns auf, wenn wir straucheln; Er bringt uns zurück, wenn wir abgeirrt sind; Er stellt die Gemeinschaft wieder her, wenn sie durch unsere Nachlässigkeit unterbrochen ist. Mit einem Wort, Er erscheint allezeit in der Gegenwart Gottes für uns und verrichtet dort zu unseren Gunsten einen ununterbrochenen Dienst, wodurch wir in der Beziehung, in welche Sein Sühnungstod uns zu Gott gebracht hat, unversehrt erhalten werden.
Es bleibt uns jetzt noch der dritte Punkt unserer Betrachtung übrig: die Ankunft des Herrn. Wir fühlen tief die Armut dessen, was wir über die beiden ersten Punkte gesagt haben; besonders möchten wir den Leser daran erinnern, dass wir bei der Behandlung des Todes Christi eine wichtige Wahrheit gänzlich unberührt gelassen haben, nämlich: unser Gestorbensein mit Ihm. Diese Wahrheit ist unendlich wichtig, da sie uns zeigt, dass wir sowohl von der Macht der in uns wohnenden Sünde, als auch von dieser gegenwärtigen bösen Welt und von dem Gesetz befreit sind. Sie ist das Geheimnis des Sieges über das Ich und die Welt und macht uns los von jeder Form von Gesetzlichkeit und fleischlicher Frömmigkeit.
Gehen wir denn jetzt zu einer kurzen Besprechung des genannten dritten Punktes unserer Betrachtung über, zu Seiner Ankunft.
Dieselbe wird uns in unmittelbarer Verbindung mit den großen Grundwahrheiten vorgestellt, welche unsere Aufmerksamkeit bereits in Anspruch genommen haben. Christus ist in dieser Welt erschienen, um die Sünde durch Sein Opfer abzuschaffen und die Sünden vieler zu tragen. Er ist durch die Himmel gegangen und hat Seinen Sitz auf dem Throne Gottes eingenommen, um da für uns zu erscheinen. Beides ist wahr, Gott sei dafür gepriesen! Aber ebenso wahr ist es auch, dass Er wieder erscheinen wird zu unserer Seligkeit, ohne dass dann die Frage der Sünde berührt wird. „Und ebenso wie es den Menschen gesetzt ist, einmal zu sterben, danach aber das Gericht, also wird auch der Christus, nachdem Er einmal geopfert worden ist, um vieler Sünden zu tragen, zum zweiten Male denen, die Ihn erwarten, ohne Sünde erscheinen zur Seligkeit."
Bestimmter könnte die Sache nicht ausgedrückt werden. So wahr Christus aus dieser Erde erschienen ist, so wahr Er umherging, Gutes tuend und heilend alle, die von dem Teufel überwältigt waren, so wahr Er an dem Fluchholze auf Golgatha hing und starb, so wahr Er in das dunkle, schweigende Grab gelegt wurde, aus dem Er am dritten Tage siegreich auferstand, um dann schließlich in die Himmel hinaufzusteigen, wo Er in der Gegenwart Gottes für uns erscheint, so wahr wird Er in kurzem in den Wolken des Himmels erscheinen, um die Seinigen zu sich zu nehmen.
Wenn man eine unserer drei Tatsachen in Frage stellt, so muss man sie alle in Frage stellen. Ist eine von ihnen ungewiss, so sind sie alle ungewiss, weil alle genau auf derselben Grundlage ruhen, nämlich auf den Heiligen Schriften. Wie weiß ich, dass Jesus erschienen ist? Weil die Schrift es mir sagt. Wie weiß ich, dass Er für mich, bei Gott erscheint? Weil die Schrift es mir sagt. Wie weiß ich, dass Er erscheinen wird? Wiederum weil die Schrift es mir sagt. Alle drei Tatsachen stehen oder fallen miteinander.
Wie kommt es nun, dass die Versammlung Jesu, während sie die Lehren von dem Sühnungswerk und dem Hohenpriestertum Christi zu allen Zeiten festhielt und hochschätzte, die Lehre von der Ankunft des Herrn so völlig aus dem Auge verloren hat? Wie kommt es, dass man die beiden ersten Wahrheiten als wesentlich betrachtet, die letzte aber meist für ganz unwesentlich hält? Ja, wir können noch weiter gehen und fragen: Wie kommt es, dass ein Mensch, der nicht an den ersten beiden Wahrheiten festhält, als Ketzer betrachtet wird, während ein anderer, der auch die letzte hochhält, bei vielen für ungesund im Glauben oder gar für nicht ganz verständig gilt?
Ach, die Antwort auf diese Fragen lautet traurig genug. Die Versammlung hat aufgehört, nach dem Herrn auszuschauen. An Sühnung und Hohepriestertum hat man festgehalten, weil sie uns unmittelbar angehen und sich mit unseren Bedürfnissen beschäftigen; aber die Ankunft des Herrn hat man aus dem Auge verloren, weil sie mehr Ihn als uns berührt. Es gebührt Ihm, der auf dieser Erde litt und starb, dass Er über alles regiere; Ihm, der eine Dornenkrone trug, dass Er eine Krone der Herrlichkeit trage; Ihm, der sich bis in den Staub des Todes niederbeugte, dass Er erhöht werde, und dass jedes Knie sich vor Ihm beuge. Wahrlich, alles das gebührt Ihm, und der Gott und Vater unseres Herrn Jesu Christi wird dafür Sorge tragen, dass es zu Seiner Zeit zustande komme. „Setze dich zu meiner Rechten, bis ich deine Feinde lege zum Schemel deiner Füße!" heißt es in Psalm 110. (Bergt. Hebr. 10.) Der Augenblick naht schnell heran, wo der hoch gelobte Herr, welcher jetzt vor den Augen der Menschen vorborgen ist, erscheinen wird in Herrlichkeit. Jedes Auge wird Ihn dann schauen. So gewiss wie Er einst an dem Kreuze hing und jetzt auf dem Throne Gottes sitzt, so gewiss wird Er bald in Herrlichkeit erscheinen.
Teurer Leser, gehörst du zu denen, welche „Ihn erwarten"? Das ist eine ernste Frage. Da sind solche, die Ihn erwarten, und andere, welche es nicht tun. Nun, den ersten wird Er zur Seligkeit erscheinen, den zweiten nicht. Er wird kommen und die S-einigen zu sich nehmen, damit sie da seien, wo Er ist. (Vergl. Joh. 14.) So lauten Seine eigenen, freundlichen Worte, und Er sprach sie einst zum Trost und zur Erquickung Seiner trauernden Jünger, als Er im Begriff stand, von ihnen wegzugehen. Er wusste und rechnete darauf, dass sie durch Sein Weggehen betrübt sein würden, und Er suchte sie deshalb durch die Versicherung Seiner Rückkehr zu trösten. Er sagte nicht: „Euer Herz werde nicht bestürzt, denn ihr werdet mir bald folgen", sondern: „denn ich komme wieder".
Das ist die Hoffnung des Christen: Christus kommt wieder. Sind wir bereit? Erwarten wir Ihn? Entbehren wir Ihn jetzt? Trauern wir über Seine Abwesenheit? Wir können uns unmöglich in der richtigen Stellung befinden, was unser Warten auf Ihn betrifft, wenn wir Seine Abwesenheit nicht fühlen. Er wird kommen. Wann? Möglicherweise heute noch. Ehe die Sonne wieder aufgeht, ertönt vielleicht die Stimme des Erzengels und der Schall der Posaune. Und was wird dann geschahen? Nun, wir wissen es ja; dann werden alle entschlafenen Heiligen, alle die im Glauben an Christus aus diesem Leben geschieden sind, alle Erlösten des Herrn, deren Leiber in den Gräbern um uns her oder in den unergründlichen Tiefen des Ozeans ruhen — sie alle werden auserstehen. Die lebendigen Heiligen werden in einem Nu, in einem Augenblick verwandelt werden, und alle miteinander werden entrückt werden dem Herrn entgegen in die Luft. (Vergl. 1. Kor. 15, 51—54; 1. Thess. 4, 13—5, 11.)
Doch was wird werden aus den Unbekehrten, den Ungläubigen, den Unbußfertigen und den Unvorbereiteten? Was wird ihr Ende sein? Das ist eine Frage von furchtbarem Ernst. Das Herz zittert bei dem Gedanken an das Los derer, welche nach in ihren Sünden sind, welche den Bitten und Warnungen, wodurch Gott sie in Seiner langmütigen Barmherzigkeit von Woche zu Woche, von Jahr zu Jahr, zur Umkehr aufgefordert hat, ein taubes Ohr entgegengebracht haben. Wie schrecklich wird das Los aller solcher fein, wenn der Herr kommt, um die Seinigen zu sich zu nehmen! Sie werden zurückbleiben und dem finsteren Geist des Irrtums zum Opfer fallen, welchen Gott allen denen senden wird, die das Evangelium gehört, aber die Liebe zur Wahrheit nicht angenommen haben. (Vergl. 2. Thess. 2, 10—12.)
O sollten wir nicht, angesichts solcher Tatsachen, einen lauten Ruf an die Ohren unserer Mitmenschen gelangen lassen? Sollten wir sie nicht dringender und ernster, als bisher, ausfordern, dem kommenden Zorn zu entfliehen? Sollten wir nicht suchen, ihnen durch Wort und Tat, durch das Zeugnis der Lippen und des Lebens, die so wichtige Tatsache vorzustellen, dass „der Herr nahe ist"? Jeder treue, aufrichtige Gläubige wird antworten: „Ja"; und es wird nicht nur bei einem Worte der Lippen bleiben, sondern wir werden alle die Notwendigkeit fühlen, mehr in dieser Wahrheit zu leben und sie mit größerer Trenne im Wandel darzustellen. Es siegt eine gewaltige moralische Kraft in der Wahrheit von dem Kommen des Herrn, wenn sie wirklich mit dem Herzen, und nicht bloß mit dem Kopfe, festgehalten wird. Ach, wenn die Christen nur mehr in der beständigen Erwartung, dieser Ankunft lebten! Es würde auf die Unbekehrten um sie her einen erstaunlichen Eindruck machen. Ja, möchte Gott in den Herzen aller Seiner Kinder die gesegnete Hoffnung von der Rückkehr Seines Sohnes Wiederaufleben lassen, damit sie Menschen gleich seien, die auf ihren Herrn warten, auf dass, wenn Er kommt und anklopft, sie Ihm alsbald aufmachen!