Es ist jedoch völlig wertlos und unwahr, wenn jemand sagt, er fürchte den Richterstuhl Christi nicht, weil Christus für ihn gestorben sei, während er zugleich in einer gleichgültigen, sorglosen und fleischlichen Gesinnung wandelt. Es ist dies eine der schrecklichsten Täuschungen Satans, eine Unwahrheit und Lüge. Wir können unmöglich Freimütigkeit zu Gott haben, solange unser Herz uns verurteilt. Es ist im höchsten Grade erschreckend, wenn jemand die gesegnete Wahrheit unserer vollkommenen Errettung in Christus dazu benutzt, die heilige Verantwortlichkeit, die auf ihm, als einem Diener Christi, ruht, zu schwächen. Sollen wir unnütze Worte aussprechen, weil wir wissen, dass wir nie ins Gericht kommen werden? Der bloße Gedanke ist erschreckend und beleidigt ein jedes aufrichtige Herz. Und doch kann es wohl sein, dass wir vor diesem Gedanken, sobald er in deutliche Worte gekleidet ist, zurückschrecken, während wir uns zu gleicher Zeit, durch eine falsche Anwendung der Lehre von der Gnade Gottes, zu einer höchst verderblichen und strafbaren Gleichgültigkeit und Sorglosigkeit in unserem Wandel verleiten lassen.
Der Herr gebe uns ein geöffnetes Auge und ein zartes Gewissen! Die Gnade, welche uns von allem Gericht befreit, übt in der Tat einen mächtigeren Einfluss auf unser ganzes Verhalten aus, als die Furcht vor dem Richterstuhl Christi. (2. Kor. 5, 10.) Und nicht nur das; wir dürfen auch nicht vergessen, dass wir, obwohl als Sünder vor dem Gericht und dem Zorne Gottes sichergestellt, als Knechte von uns und von allen unseren Wegen Rechenschaft zu geben haben. Es handelt sich nicht darum, dass wir hier oder dort vor Menschen oder Engeln bloßgestellt werden. Nein, sondern „ein jeder von uns wird für sich selbst Gott Rechenschaft geben." (Röm. 14, 11. 12.) Das ist weit ernster und wichtiger, ja weit mehr geeignet, einen heilsamen Einfluss auf all unser Tun und Lassen auszuüben, als der Gedanke, vor den Augen irgendeines Geschöpfes bloßgestellt zu werden. „Alles, was ihr tut, arbeitet von Herzen, als dem Herrn und nicht den Menschen, da ihr wisset, dass ihr vom Herrn empfangen werdet die Vergeltung des Erbes; ihr dienet dem Herrn Christus. Denn wer Unrecht tut, wird empfangen das Unrecht, das er getan hat; und da ist kein Ansehen der Person." (Kolosser 3, 23—25.)
Welch eine ernste Wahrheit! Indes möchte gefragt werden: „Wann werden wir denn Gott Rechenschaft zu geben haben? Wann werden wir die Vergeltung empfangen?" — Es wird uns nicht gesagt, weil es sich darum gar nicht handelt. Der Zweck des Heiligen Geistes in den angeführten Stellen ist einfach der, das Gewissen in der Gegenwart Gottes und des Herrn Jesu Christi in eine heilige Übung zu bringen. Wie notwendig dies ist in den Tagen eines oft leichtfertigen und oberflächlichen Bekenntnisses, wie die heutigen sind, braucht kaum gesagt zu werden.
Vielleicht hat es noch nie eine Zeit gegeben, wo so viel und so allgemein von einer freien, unumschränkten Gnade, von einer Rechtfertigung ohne Werke, von der Unantastbarkeit der Stellung des Gläubigen in Christus Jesu geredet worden ist, wie gerade in der gegenwärtigen. Und gewiss haben wir alle Ursache, dem Herrn dafür zu danken, dass Er diese gesegneten Wahrheiten den Seinigen wieder mehr ins Gedächtnis gerufen hat, und fern sei ps von uns, das Bewusstsein dieser herrlichen Dinge irgendwie schmälern und schwächen zu wollen. Im Gegenteil wird es das eifrige Bestreben eines jeden treuen Dieners Christi sein, die Gläubigen in die göttliche Kenntnis und in dem Genuss aller jener kostbaren Vorrechte mehr und mehr einzuführen.
Allein wir dürfen »nicht vergessen, dass jedes Ding zwei Seiten hat; und wir finden demzufolge auch in den Schriften des Neuen Testamentes unmittelbar neben den klarsten und umfassendsten Darstellungen der unergründlichen Gnade Gottes höchst ernste und feierliche Erinnerungen an unsere heilige Verantwortlichkeit. Werden die ersteren durch die letzteren verdunkelt? In keiner Weise. Aber ebenso wenig sollen wir die ersteren benutzen, um die letzteren dadurch zu schwächen. Beiden sollte von uns stets der rechte Platz gegeben werden, und wir sollten beiden erlauben, ihren bildenden Einfluss auf unseren Charakter und unser Verhalten auszuüben.
Manche, welche Christen zu sein bekennen, scheinen die Worte: „Schuldigkeit" und „Verantwortlichkeit" sehr ungern zu hören. Aber wir werden stets finden, dass gerade diejenigen, welche das tiefste Bewusstsein von der in Christus Jesu geoffenbarten Gnade Gottes besitzen, zugleich auch, und zwar als eine notwendige Folge, am tiefsten ihre Pflicht und Verantwortlichkeit fühlen. Ein Herz, das unter dem richtigen Einfluss der göttlichen Gnade steht, wird auch sicher jeden Hinweis auf die Ansprüche der Heiligkeit Gottes willkommen heißen. Wer nichts von der Pflicht und der Verantwortlichkeit des Christen hören will, kennt auch in Wahrheit nichts von der Gnade Gottes und von der Stellung des Gläubigen in Christus.
Gott muss Wirklichkeit haben. In Seiner Liebe und Treue gegen uns ist alles Wahrheit und Wirtlichkeit, und so muss auch in unserm Verhalten Ihm gegenüber und in unserer Antwort auf die Ansprüche und Forderungen Seiner Heiligkeit volle Wahrheit und Wirklichkeit vorhanden sein. Es ist ganz wertlos, zu rufen: „Herr, Herr!" wenn wir zugleich in der Vernachlässigung Seiner Gebote wandeln. Es ist nichts als Täuschung und Trug, wenn wir sagen: „Ich gehe Herr," und bleiben ruhig da, wo wir sind. Gott erwartet Gehorsam von Seinen Kindern. Er ist ein Belohner derer, die Ihn fleißig suchen.
Möchten wir dies nie vergessen und zugleich stets im Gedächtnis behalten, dass alles vor dem Richterstuhl Christi ans Licht kommen wird. Wir müssen dort alle geoffenbart werden. Dieser Gedanke erfüllt ein wahrhaft aufrichtiges Herz mit unvermischter Freude. Wenn wir nicht mit Freude an den Richterstuhl Christi denken können, so muss irgendetwas bei uns nicht in Ordnung sein. Entweder sind wir nicht befestigt in der Gnade, oder wir wandeln in einer verkehrten Weise. Wenn wir wissen, dass wir gerechtfertigt und annehmlich gemacht sind vor Gott in Christus, und wenn wir in Reinheit des Herzens in Seiner Gegenwart wandeln, so kann der Gedanke an den Richterstuhl unsere Herzen nicht beunruhigen. Der Apostel konnte sagen: „Gott sind wir offenbar geworden; ich hoffe aber auch in euren Gewissen offenbar geworden zu sein." (2. Kor. 5, 11.)
War Paulus bange vor dem Richterstuhl? Beunruhigte ihn der Gedanke, dort geoffenbart zu werden, in irgend einer Weise? O nein! Und warum nicht? Weil er wusste, dass er, was seine Person betraf, vor Gott annehmlich gemacht war in einem auferstandenen Christus, und weil er im Blick auf sein Verhalten, auf seinen Wandel, sagen tonnte: „Deshalb beeifern wir uns auch, ob einheimisch oder ausheimisch, Ihm wohlgefällig zu sein." (Vers 9.) So stand es mit diesem treuen Knechte Christi. Er durfte vor dem Landpfleger Felix und angesichts seiner Ankläger auf sein Leben Hinweisen und mit aller Freimütigkeit sagen: „Darum übe ich mich auch, allezeit ein Gewissen zu haben ohne Anstoß vor Gott und den Menschen." (Apostelgeschichte 24, 16.) Paulus wusste, dass er angenommen war in Christus, und deshalb bemühte er sich, auch von Ihm angenommen zu werden, d. h. in allem Ihm wohlgefällig zu sein.
Diese beiden Dinge sollten nie voneinander getrennt werden, und sie werden sich auch in einem von Gott belehrten Herzen und in einem von Gott geleiteten Gewissen stets vereinigt finden. Sie gehören zusammen und erweisen, wo sie vorhanden sind, in heiliger Harmonie stets ihre bildende Kraft. Es ist unser Vorrecht und sollte unser stetes Bestreben sein, jetzt schon in dem Lichte des Richterstuhls zu wandeln. Dies würde in mancher Hinsicht einen heilsamen Einfluss auf unser Verhalten ausüben.
Könnte es, wie manche zu meinen scheinen, einen gesetzlichen Geist in uns wachrufen? Unmöglich.
Wird sich noch irgendwelche Gesetzlichkeit in uns finden, wenn wir dereinst vor dem Richterstuhl Christi stehen werden? Sicherlich nicht. Wie könnte denn der Gedanke an diesen Richterstuhl jetzt einen gesetzlichen Geist in uns erwecken? Nein, ich wiederhole es noch einmal: Das Bewusstsein, dass alles völlig geoffenbart werden wird in dem Lichte jenes immer näherkommenden Tages, wird für ein wahrhaft aufrichtiges Herz überaus köstlich sein.
Wir werden dann alles sehen, wie Christus es sieht, alles beurteilen, wie Er es beurteilt. Wir werden inmitten dieses vollkommenen Lichtes, das von dem Richterstuhl ausstrahlt, einen Rückblick auf unseren ganzen Weg durch diese Welt werfen und alles sehen, wie es in Wahrheit ist. Wir werden sehen, welche Fehler wir gemacht, welche Irrtümer wir begangen haben — wie verkehrt wir dieses und jenes getan, und welch falsche Beweggründe uns oft, vielleicht unbewusst, geleitet haben; wir werden erkennen, wie oft wir nicht die Ehre unseres Herrn, sondern unsere eigene Ehre und die Befriedigung der Wünsche unserer alten Natur gesucht haben, aber auch mit welch einer Liebe, Langmut und Geduld der Herr uns getragen und geleitet hat, wie Er in allen den Wegen, die Er uns geführt und die uns oft so unverständlich waren, unser Bestes, und nur unser Bestes, im Auge hatte.
Alles das und mehr noch werden wir in dem untrüglichen Lichte des Richterstuhls in göttlicher Klarheit schauen. Handelt es sich dabei um unsere Bloßstellung vor den Augen des ganzen Weltalls? Durchaus nicht. Und selbst wenn das der Fall wäre, würde es uns irgendwie beunruhigen können? Würde es unsere Annahme in dem Geliebten in irgendeiner Weise antasten? Nein, nein; wir werden dort leuchten in all der Vollkommenheit und Schönheit unseres auferstandenen und verherrlichten Hauptes. Der Richter selbst ist unsere Gerechtigkeit. Wir sind in Ihm. Wer oder was könnte uns antasten? Wer Anklage gegen uns erheben? Wir werden dort geoffenbart werden als die Frucht Seines vollkommenen Werkes; ja, wir werden mit Ihm eins sein in dem Gericht, welches Er ausübt.
Ist das nicht genug, um jede Frage zu entscheiden, jede Schwierigkeit zu lösen? Sicher und gewiss. Doch es gibt noch einen anderen Punkt in Verbindung mit dem Richterstuhl, bei welchem wir noch einen Augenblick verweilen müssen. Es ist dies die Belohnung von feiten des Herrn für alles das, was wir in Einfalt und Treue, wenn auch in großer -Schwachheit, für Ihn getan haben. Obwohl Seine Gnade allein das Gute in uns wirken und uns zu irgendeinem Dienst befähigen kann, so will Er doch nichts vergessen, was um Seinetwillen von uns hienieden geschehen ist. Nicht einmal ein Trunk Wassers, aus Liebe zu Ihm gereicht, soll vergessen werden.
Welch eine bewunderungswürdige Gnade! Wie sollte sie uns anspornen, achtzuhaben auf unseren Persönlichen Wandel und Dienst! Der Herr gebe uns, dass wir uns nur als solche Verhalten, die bereits in dem Lichte sind und deren einziger Wunsch es ist, das zu tun, was unserem anbetungswürdigen Herrn wohlgefällt, und dies nicht etwa aus Furcht vor dem Richterstuhl, sondern unter dem Einfluss Seiner Liebe.
„Die Liebe des Christus drängt uns, indem wir also geurteilt haben, dass einer für alle gestorben ist und somit alle gestorben sind. Und Er ist für alle gestorben, auf dass die, welche leben, nicht mehr sich selbst leben, sondern Dem, der für sie gestorben ist und ist auferweckt worden." (V. 14—15.) Das ist die allein wahre Quelle und Triebfeder, aus welcher jeder christliche Dienst hervorgehen sollte. Nicht die Furcht vor einem drohenden Gericht ist es, die uns antreiben und drängen sollte, sondern die Liebe des Christus; und wir dürfen versichert sein, dass wir nie ein tieferes Gefühl von dieser Liebe haben werden, als gerade dann, wenn wir vor dem Richterstuhl Christi stehen.