„Und Jesus setzte sich dem Schatzkasten gegenüber und sah, wie die Volksmenge Geld in den Schatzkasten legte; und viele Reiche legten viel ein. Und eine arme Witwe kam und legte zwei Scherflein ein, das ist ein Pfennig." (Mark. 12, 41. 42.)
Wie wenig wussten jene Leute davon, welche Augen auf ihnen ruhten, als sie ihre Opfergaben in den Schatzkasten legten! Wie wenig dachten sie daran, dass sie von Demjenigen beobachtet wurden, dessen Auge bis in die innersten Tiefen ihrer Herzen eindringen und dort die Beweggründe lesen konnte, welche sie bei ihrem Tun leiteten. Es mag seilt, dass der stolze Pharisäer da war, prahlerisch seinen Reichtum und seine Frömmigkeit zur Schau tragend. Vielleicht auch der kalte, herzlose Formenmensch, um nach seiner Gewohnheit den für diesen Zweck ein für allemal bestimmten Betrag in den Kasten einzulegen. Jesus aber sah sie alle und — beurteilte sie alle.
Es ist gut, daran zu denken, dass Jesus uns sieht bei jeder Gelegenheit, wo wir aufgefordert werden, zu Seiner Sache etwas beizutragen. Er sitzt dem Schatzkasten gegenüber, und Sein heiliges, durchdringendes Auge ruht nicht auf der Börse, sondern auf dem Herzen. Er wägt nicht den Betrag ab, sondern den Beweggrund. Wenn nur das Herz für Ihn schlägt, so wird auch der Betrag Seinem Urteil entsprechend ein richtiger sein. Wo das Herz in Wahrheit für Seine Person schlägt, da wird auch die Hand offen sein für Seine Sache. Alle, welche wirklich Christus liebhaben, werden es als ihr hohes und glückseliges Vorrecht betrachten, sich selbst zu verleugnen, um zu Seiner Sache etwas beitragen zu können. Es ist ohne Zweifel wunderbar, dass Er sich herablässt, uns um unsere Beiträge und Beihilfe zu bitten. Aber Er tut es, und es sollte unsere hohe Freude sein. Seiner Bitte zu entsprechen, je nachdem Gott uns dazu in den Stand gesetzt hat. Vergessen wir nicht, dass Er einen fröhlichen Geber liebt; denn Er selbst ist — gepriesen sei Sein herrlicher Name! — ein solch fröhlicher Geber.
Unter der Schar, die sich an den Schatzkasten herandrängte, um ihre Gaben einzulegen, befand sich jedoch eine Person, welche die Aufmerksamkeit des Herrn in ganz besonderer Weise auf sich zog. „Und eine arme Witwe kam und legte Zwei Scherflein ein, das ist ein Pfennig." Das war in der Tat, an und für sich betrachtet, eine sehr kleine Summe. Aber denken wir an die Geberin. Sie war eine „Witwe", und zwar eine „arme Witwe", ein hilfloses, in dieser Welt alleinstehendes Geschöpf. Eine solche Witwe erweckt in uns stets den Gedanken an eine Person, die aller irdischen Hilfsmittel und aller menschlichen Stützen beraubt ist. „Die aber wirklich Witwe und vereinsamt ist, hofft auf Gott und verharrt in dem Flehen und in den Gebeten Nacht und Tag." Allerdings gibt es viele sogenannte Witwen, die diesen Charakter durchaus nicht zur Schau tragen. Sie stehen ganz außer dem Bereich wahrer Witwenschaft. Der Heilige Geist entwirft in 1. Tim. 5, 11—13 ein treffendes Bild von dieser Art Witwen.
Doch die arme Witwe an dem Schatzkasten gehörte zu der Klasse der wahren Witwen. Sie war eine Witwe nach den Gedanken Christi. „Und Er rief Seine Jünger herzu und sprach zu ihnen: Wahrlich, ich sage euch: diese arme Witwe hat mehr eingelegt, als alle, die in den Schatzkasten eingelegt haben. Denn alle haben von ihrem Überfluss eingelegt, diese aber hat von dem ihrigen alles was sie hatte, eingelegt, ihren ganzen Lebensunterhalt." V. 43. 44.
Ohne Zweifel würden, wenn es damals, wie heute, Zeitungen und Tageblätter gegeben Hätte, die fürstlichen Gaben der Reichen in den Spalten derselben einen bevorzugten Platz gefunden haben, während die arme Witwe und ihre Opfergabe nur verächtlichem Stillschweigen übergangen worden wären. Doch die Gedanken unseres anbetungswürdigen Herrn waren andere. Die zwei Scherflein der armen Witwe wogen auf Seiner Waagschale weit schwerer, als alle die übrigen Gaben zusammen genommen. Es ist eine verhältnismäßig leichte Sache, von einem großen Vermögen Hunderte und Tausende zu geben; aber es ist nicht so leicht, eine einzige Bequemlichkeit um des Herrn willen aufzugeben. Und diese arme Witwe gab nicht eine Bequemlichkeit auf, sie weihte dem Herrn nicht eine Sache, die sie leicht entbehren konnte, nein, sie gab für das Haus des Herrn ihren ganzen Lebensunterhalt. Das war es, was sie mit dem Herrn selbst irr so nahe Geistesverwandtschaft brachte. Er konnte sagen: „Ter Eifer um Tein Haus hat mich verzehrt": und sie konnte sagen: „Der Eifer um Dein Haus hat meinen ganzen Lebensunterhalt verzehrt." Auf diese Weise kam sie dem Herrn sehr nahe. Welch ein Vorrecht!
Und beachten wir wohl, in welcher Form die arme Witwe ihren Lebensunterhalt besaß. Der Heilige Geist sagt ausdrücklich: Sie „legte zwei Scherflein ein, das ist ein Pfennig". Weshalb das? Warum teilt Er uns nicht einfach mit. dass sie „einen Pfennig" einlegte? Weil dann der rührendste Zug in dieser Geschichte verloren gegangen wäre. Gerade jene Worte machen die Handlung der Witwe zu einer so überaus schönen. Hätte sie ihren Lebensunterhalt in einem Stück besessen, so würde sie entweder alles oder gar nichts haben geben müssen. Da er aber in zwei Scherflein bestand, so war die Möglichkeit vorhanden, die Hälfte für ihren eigenen Unterhalt zurückzubehalten. Und sicher würden es die meisten von uns für einen Beweis von außerordentlicher Hingebung halten, wenn jemand für die Sache des Herrn die Hälfte von alle dem, was er in dieser Welt besäße, hingeben würde. Aber diese arme Witwe hatte ein ganzes, ungeteiltes Herz für Gott. Sie hielt gar nichts für sich zurück. Sie verlor sich selbst und ihre Interessen völlig aus dem Auge und gab ihren ganzen Lebensunterhalt für das her, was nach ihren Gedanken die Sache ihres Gottes bildete. Möchte der Herr auch in unseren Herzen etwas von diesem Geiste wachrufen!