CHM- Gedanken über die Schlussszenen von Maleachi und Judas


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andere Schriften von C.H. Mackintosh

Bei einem Vergleich der inspirierten Schriften des Propheten Maleachi und des Apostels Judas finden wir viele ähnliche Punkte und viele Gegensätze. Beide schildern Szenen des Ruins, des Verderbens und des Abfalls. Maleachi ist beschäftigt mit dem Verderben des Judentums, Judas mit dem Verderben des Christentums. Der erstere stellt von vornherein und mit einer ungewöhnlichen Lebendigkeit die Quelle der Segnung Israels und das Geheimnis seines Falles vor Augen. „Ich habe euch geliebt, spricht Jehova;" (V. 2) das war die Quelle aller Segnung, aller Herrlichkeit und aller Würde Israels. Die Liebe Jehovas erklärt die Herrlichkeit Israels in der Vergangenheit und begründet seine noch weit größere Herrlichkeit in der Zukunft.

Auf der anderen Seite erklärt und begründet die unverschämte und ungläubige Gegenrede Israels: „Worin hast Du uns geliebt?" die schreckliche Tiefe des gegenwärtigen Verderbens dieses Volkes. Eine solche Frage zu stellen nach alledem, was Jehova von den Tagen Moses bis zu den Tagen Salomos für Israel getan hatte, bewies einen Zustand der Gefühllosigkeit, wie er niedriger nicht gedacht werden kann. Bei solchen, welche mit der wunderbaren Geschichte der Wege Jehovas vor ihren Augen noch fragen konnten: „Worin hast Du uns geliebt?" war alles moralische Gefühl verschwunden. Deshalb dürfen wir uns über die scharfen Worte des Propheten nicht wundern: „Wenn ich denn Vater bin, wo ist meine Ehre? und wenn ich Herr bin, wo ist meine Furcht? spricht Jehova der Heerscharen zu euch, ihr Priester, die ihr meinen Namen verachtet und doch sprechet: Womit haben wir Deinen Namen verachtet?" (V. 6.) Sowohl in Bezug auf die Liebe des Herrn, als auch im Blick auf ihre eigenen bösen Wege war die größte Gefühllosigkeit vorhanden. Nur ein völlig verhärtetes Herz konnte sagen: „Worin hast Du uns geliebt?" und: „Womit haben wir Deinen Namen verachtet?" — angesichts einer tausendjährigen Geschichte, die einerseits Zeugnis gab von der beispiellosen Gnade, Barmherzigkeit und Langmut Gottes und andererseits von Anfang bis zu Ende durch die Untreue, Torheit und Sünde Israels befleckt war.

Doch horchen wir auf die weiteren Aussprüche des Propheten, oder vielmehr auf die rührenden Vorstellungen des verachteten und beleidigten Gottes Israels. „Ihr bringet unreines Brot auf meinem Altar dar und sprechet doch: Womit haben wir dich verunreinigt? Damit dass ihr saget: der Tisch Jehovas ist verächtlich. Und wenn ihr Blindes darbringet, um es zu opfern, so ist es nichts Böses; und wenn ihr Lahmes und Krankes darbringet, so ist es nichts Böses. Bringe es doch deinem Landpfleger dar: wird er dich wohlgefällig annehmen oder Rücksicht mit dir haben? spricht Jehova der Heerscharen . . . Wäre doch nur einer unter euch, der die Türen verschlösse, damit ihr nicht vergeblich auf meinem Altar Feuer anzündetet! Ich habe keine Lust an euch, spricht Jehova der Heerscharen, und eine Opfergabe nehme ich nicht wohlgefällig aus eurer Hand an. — Denn vom Aufgang der Sonne bis zu ihrem Niedergang wird mein Name groß sein unter den Nationen; und an jedem Orte wird geräuchert, dargebracht werden meinem Namen, und zwar reine Opfergaben. Denn mein Name wird groß sein unter den Nationen, spricht Jehova der Heerscharen. Ihr aber entweihet ihn, indem ihr sprechet: Der Tisch des Herrn ist verunreinigt, und sein Einkommen, seine Speise, ist verächtlich. Und ihr sprechet: Siehe, welch eine Mühsal! und ihr blaset ihn an, spricht Jehova der Heerscharen, und bringet Geraubtes herbei und das Lahme und das Kranke; und so bringet ihr die Opfergabe. Soll ich das wohlgefällig von eurer Hand annehmen? spricht Jehova."

Welch ein finsteres und trauriges Gemälde von dem moralischen Zustande Israels! Die öffentliche Anbetung Gottes war in äußerste Verachtung gekommen. Sein Altar war entweiht, Sein Dienst verachtet. Den Priestern diente der Gottesdienst in erster Linie als ein Erwerbszweig, und dem Volke war die ganze Sache zum Überdruss, zu einer leeren Form, zu einer toten und herzlosen Gewohnheit geworden. Da war kein Herz für Gott; das ganze Dichten und Trachten war auf schnöden Gewinn gerichtet. Mochte ein Opfertier noch so lahm und krank sein — für den Altar war es immer noch gut genug. Das Schlechteste, was zu haben war, das Lahme, Blinde und Kranke, was man einem menschlichen Herrscher niemals zu bringen gewagt hätte, wurde auf den Altar Gottes gelegt. Das war der bedauernswerte Zustand der Dinge in den Tagen Maleachis. Wahrlich, man kann nur mit tiefem Schmerz dabei verweilen.

Indes hat das Gemälde, Gott sei dafür gepriesen, auch eine Kehrseite. Es gab einige seltene und liebliche Ausnahmen von der traurigen Regel, die umso schärfer von dem Hintergründe des Gemäldes abstachen, je düsterer dieser war. Es ist wahrhaft erfrischend, inmitten des allgemeinen Verderbens, inmitten der Kälte und Gleichgültigkeit, der Dürre und Gefühllosigkeit, des Stolzes und der Störrigkeit der Herzen solche zu finden, von denen gesagt werden konnte: „Da unterredeten sich die Jehova fürchten miteinander, und Jehova merkte auf und hörte; und ein Gedenkbuch ward vor Ihm geschrieben für die, welche Jehova fürchten und welche Seinen Namen achten." (Kap. 3, 16.)

Wie kostbar sind diese wenigen Worte! Wie erfreulich ist es, diesen Überrest zu betrachten inmitten des Verfalls um ihn her! Man findet bei ihm weder Einbildung noch Anmaßung; man hört von keinem Versuch, etwas Neues aufzurichten, von keiner Anstrengung, die verfallene Haushaltung wiederherzustellen, noch endlich von irgendwelcher Entfaltung einer eingebildeten Macht. Diese wenigen Getreuen blickten im Gefühl ihrer Schwachheit zu Jehova empor, und das ist — mögen wir es wohl beachten und nie vergessen! — das wahre Geheimnis aller wirklichen Kraft. Das Bewusstsein unserer Schwachheit braucht uns keine Furcht einzuflößen. Was wir zu fürchten haben und wovor wir stets zurückschrecken sollten, ist eine eingebildete und angemaßte Kraft. Die gesegnetste und sicherste Regel für das Volk Gottes liegt zu allen Zeiten in den Worten: „Wenn ich schwach bin, dann bin ich stark." (2. Kor. 12, 10.) Wir dürfen immer und in allen Lagen auf Gott rechnen; und es ist eine unbedingt feststehende Tatsache, dass der Zustand der bekennenden Kirche, wie niedrig er auch sein mag, niemals den persönlichen Glauben hindern kann, die Gemeinschaft mit Gott im vollsten Sinne des Wortes zu genießen.

Es ist dies ein überaus wichtiger Grundsatz, an welchem wir stets festhalten sollten. Mag das bekennende Volk Gottes auch noch so tief gesunken sein, der einzelne Gläubige, der sich selbst vor Gott richtet und demütigt, kann Seine Gegenwart und Seine Segnungen allezeit ohne Ziel und Schranken genießen. Dies bezeugt uns ein Daniel, ein Mordokai, ein Esra, ein Nehemia, ein Josia, ein Jehiskia und viele, viele andere Männer des Glaubens, welche mit Gott wandelten, die erhabensten Grundsätze verwirklichten und die höchsten und seltensten Vorrechte der herrschenden Haushaltung genossen, trotzdem alles um sie her in hoffnungslosem Verfall lag. In den Tagen des Königs Josia wurde ein Passah gefeiert, wie es seit den Tagen Samuels, des Propheten, nicht gefeiert worden war. (2. Chron. 35, 18.) Der schwache Überrest der Juden beging nach seiner Rückkehr aus Babylon das Laubhüttenfest — ein Vorrecht, welches die Kinder Israel seit den Tagen Josuas, des Sohnes Runs, nicht genossen hatten. (Neh. 8, 17.) Mordokai errang ohne Schwertstreich einen Sieg über Amalek, wie ihn Josua in den Tagen von 2. Mose 17 nicht glänzender davongetragen hatte. (Esther 6, 11. 12.) In dem Buche des Propheten Daniel endlich sehen wir den stolzesten Monarchen der Erde sich niederwerfen vor den Füßen eines gefangenen Juden.

Was lehren uns alle diese Beispiele? Einfach dieses, dass eine demütige, gläubige und gehorsame Seele die innigste und völligste Gemeinschaft mit Gott genießen kann, trotz des Verderbens und Verfalls des bekennenden Volkes Gottes um sie her, und obgleich die Herrlichkeit von der Haushaltung gewichen sein mag, in welcher sie sich befindet.

So war es in den Schlussszenen von Maleachi. Alles lag in hoffnungslosem Verfall. Aber das hinderte diejenigen, welche den Herrn liebten und fürchteten, nicht, sich um Ihn zu versammeln und sich von Seinem kostbaren Namen zu unterhalten. Ohne Zweifel stand der schwache Überrest jener Zeit in keinem Vergleich zu der großen Versammlung, welche in den Tagen des Königs Salomo von Dan bis Beerseba zusammenströmte; aber er hatte eine besondere Herrlichkeit für sich — er genoss die göttliche Gegenwart in einer nicht weniger wunderbaren, wenn auch nicht so auffallenden Weise wie damals. Wir hören nichts von einem „Gedenkbuch" in den Tagen Salomos, noch wird dort gesagt, dass „Jehova aufmerkte und hörte." Vielleicht wird man ein- wenden, dass das damals nicht nötig gewesen sei. Sei es so; aber dies schwächt nicht die Herrlichkeit der Gnade, welche über jener kleinen Herde in den Tagen Maleachis leuchtete. Wir dürfen überzeugt sein, dass ihre inbrünstigen Gebete dem Herzen Jehovas ebenso wohltuend waren wie die glänzenden Opfergaben in den Tagen der Weihe Salomons. Ihre Liebe strahlte gegenüber dem gefühllosen Formenwesen des Judentums und der Gewinnsucht der Priester nur um so Heller hervor.

„Und sie werden mir, spricht Jehova der Heerscharen, zum Eigentum sein an dem Tage, den ich machen werde; und ich werde ihrer schonen wie ein Mann seines Sohnes schont, der ihm dient. Und ihr werdet wiederum den Unterschied sehen zwischen dem Gerechten und dem Gesetzlosen, zwischen dem, der Gott dient, und dem, der Ihm nicht dient. Denn siehe, der Tag kommt, brennend wie ein Ofen; und es werden alle Übermutigen und jeder Täter der Gesetzlosigkeit zu Stoppeln werden; und der kommende Tag wird sie verbrennen, spricht Jehova der Heerscharen, so dass er ihnen weder Wurzel noch Zweig lassen wird. Aber euch, die ihr Meinen Namen fürchtet, wird die Sonne der Gerechtigkeit aufgehen mit Heilung in ihren Flügeln. Und ihr werdet ausziehen und Hüpfen gleich Mastkälbern; und ihr werdet die Gesetzlosen zertreten; denn sie werden Asche sein unter euren Fußsohlen an dem Tage, den ich machen werde, spricht Jehova der Heerscharen." (Kap. 3, 17. 18; 4, 1—3.)

Werfen wir jetzt einen kurzen Blick auf die Epistel des Judas. Dieselbe liefert uns ein noch abschreckenderes Bild von Abfall und Verderben. Man sagt mit Recht, dass das Verderben der besten Sache das schlimmste Verderben sei, oder mit anderen Worten: je schöner ein Ding, desto schrecklicher sein Verderben. Aus diesem Grunde ist auch die Beschreibung, welche Judas vor unseren Blicken entrollt, noch weit düsterer und abschreckender als diejenige des Propheten Maleachi. Es ist der gänzliche Verfall des Menschen unter den höchsten und herrlichsten Vorrechten, welche ihm jemals anvertraut werden konnten.

Gleich im Anfang seiner feierlichen Anrede lässt uns Judas wissen, dass es in seiner Absicht gelegen, ja, dass er allen Fleiß angewandt habe, uns „über unser gemeinsames Heil zu schreiben." (Vers 3.) Es würde die weitaus angenehmste Beschäftigung, ja, eine Freude und Erquickung für ihn gewesen sein, wenn er sich über die gegenwärtigen Vorrechte und zukünftigen Herrlichkeiten hätte verbreiten können, welche alle in dem kostbaren Wörtchen „Heil" für den Gläubigen eingeschlossen sind. Allein er sah sich „genötigt", davon abzustehen, um die Seelen der Gläubigen zu befestigen gegenüber dem immer mehr anschwellenden Strom des Irrtums und Bösen, welcher sie wahren Grundlagen des Christentums umzustürzen drohte. „Geliebte, indem ich allen Fleiß anwandte, euch über unser gemeinsames Heil zu schreiben, war ich genötigt, euch zu schreiben und zu ermahnen, für den einmal den Heiligen überlieferten Glauben zu kämpfen." Das Wesen und Fundament des Christentums standen in Frage; es galt, in allem Ernst für den Glauben selbst zu kämpfen. „Denn gewisse Menschen haben sich neben- eingeschlichen, die schon vorlängst zu diesem Gericht zuvor ausgezeichnet waren, Gottlose, welche die Gnade unseres Gottes in Ausschweifung verkehren und unseren alleinigen Gebieter und Herrn Jesus Christus verleugnen." (V. 4.)

Das war weit schlimmer als alles, was wir in Maleachi fanden. Dort handelte es sich um das Gesetz: „Gedenket des Gesetzes Moses, meines Knechtes, welches ich ihm auf Horeb an ganz Israel geboten habe — Satzungen und Rechte." (Mal. 4, 4.) Aber zur Zeit des Apostels Judas handelte es sich um die Tatsache, dass man die reine und kostbare Gnade Gottes in Ausschweifung verkehrte und die Autorität des Herrn Jesu verleugnete. Anstatt daher bei dem Heil Gottes verweilen zu können, war der Apostel gezwungen, die Gläubigen zu ermahnen und sie gegenüber der Bosheit und Gesetzlosigkeit der Menschen zu befestigen. „Ich will euch aber," sagt er, „die ihr einmal alles wusstet, erinnern, dass der Herr, nachdem Er das Volk aus dem Lande Ägypten gerettet hatte, zum anderen- mal die vertilgte, welche nicht geglaubt haben; und Engel, die ihren ersten Zustand nicht bewahrt, sondern ihre eigene Behausung verlassen haben, hat Er zum Gericht des großen Tages mit ewigen Ketten unter der Finsternis verwahrt." (V. 5. 6.)

Dies alles ist sehr ernst; jedoch möchten wir für jetzt nicht länger bei den finsteren Zügen dieser Szene verweilen. Betrachten wir vielmehr das anziehende Bild des treuen Überrests, welches wir am Schluss dieser ernsten Epistel finden. Wie uns Maleachi eine kleine Schar jüdischer Anbeter zeigt, die inmitten des traurigen Verfalls des Judentums den Herrn liebten und fürchteten und Gemeinschaft miteinander pflegten, so führt der Heilige Geist in diesem Briefe ein Häuflein Getreuer vor unsere Blicke, die inmitten des noch schrecklicheren Verderbens der bekennenden Kirche ihrer Berufung treu geblieben waren, und welche der Apostel mit dem Namen „Geliebte" bezeichnet. (V. 17.)

Sie waren die „in Gott, dem Vater, geliebten und in Jesu Christus bewahrten Berufenen"; und der Apostel warnt sie ernstlich vor den verschiedenen Formen des Irrtums und des Bösen, welche schon damals in die Erscheinung traten, seitdem aber eine so furchtbare Ausdehnung gewonnen haben. In eindringlicher und zugleich liebevoller Weise ermahnt er sie: „Ihr aber, Geliebte, euch selbst erbauend auf euren allerheiligsten Glauben, betend im Heiligen Geiste, erhaltet euch selbst in der Liebe Gottes, erwartend die Barmherzigkeit unseres Herrn Jesu Christi zum ewigen Leben." (V. 20. '21.)

Hier haben wir den göttlichen Schutz gegen alle die finsteren und schrecklichen Formen des Abfalls: „den Weg Kains, den Irrtum Bileams und den Gegenspruchs Korahs" — „das Murren und Klagen" — „die stolzen Worte" — „die wilden Meereswogen" — „die Irrsterne" — „das Bewundern der Personen Vorteils halber" usw. Die „Geliebten" sollen „sich selbst auserbauen auf ihren allerheiligsten Glauben". Möge der Leser dies Wohl beachten! Mit keiner Silbe weist der Apostel die Gläubigen auf sogenannte „Nachfolger der Apostel" oder auf besonders begabte Brüder hin; ebenso wenig wie Paulus in seiner letzten rührenden Ansprache an die Ältesten von Ephesus dies tut. (Apostelg. 20.) Es ist nützlich, dies zu verstehen und sich stets daran zu erinnern. Wie oft hört man heutzutage klagen über den Mangel an Gaben und Kraft, über die geringe Zahl von wahren Hirten und Lehrern! Wir möchten demgegenüber fragen: Wie könnten wir viele Gaben und Kraft erwarten? Haben wir sie verdient? Ach! wir haben gefehlt und gesündigt und in so mancher Hinsicht unserer Berufung nicht entsprochen. Lasst uns dies anerkennen und uns auf den lebendigen Gott stützen! Wir werden dann erfahren, dass Er ein auf Ihn vertrauendes Herz nie zu Schanden werden lässt.

Wem befiehlt der Apostel Paulus die Gläubigen in seiner eben erwähnten Ansprache? Der Augenblick war gekommen, dass der apostolische Dienst in ihrer Mitte aufhören sollte. Redet er ein Wort von apostolischer Nachfolge? Nicht im geringsten; vielmehr spricht er von „verderblichen Wölfen", oder von Männern, die aus ihrer Mitte aufstehen und verkehrte Dinge reden würden, um die Jünger abzuziehen hinter sich her. Worin besteht nun die Hilfsquelle des Glaubens? Hören wir, was der Apostel sagt: „Und nun befehle ich euch Gott und dem Worte Seiner Gnade, welches vermag aufzuerbauen und euch ein Erbe zu geben unter allen Geheiligten." (Apostelg. 20, 17—38.)

Welch eine kostbare Hilfsquelle! Kein Wort wird gesagt von begabten Männern, so schätzenswert diese auch an ihrem richtigen Platze sein mögen. Gott bewahre uns vor irgendwelcher Geringschätzung der Gaben, welche der Herr in Seiner Gnade trotz all unserer Fehler und Sünden Seiner Versammlung darzureichen für gut findet! Aber dennoch bleibt es eine unumstößliche Wahrheit, dass der Apostel bei seinem Abschiede von der Versammlung uns nicht begabten Männern befiehlt, sondern Gott selbst und dem Worte Seiner Gnade. Hieraus folgt, dass wir, mag unsere Schwachheit auch noch so groß sein, nur auf Gott zu blicken und auf Ihn zu vertrauen haben. Seine Gnade kennt keine Schranken; Er beschämt nie eine Seele, die auf Ihn vertraut, und Er vermag uns in überströmender Fülle zu segnen, wenn wir nur einfältig und demütig auf Ihn allein rechnen.

In dieser Demut und in diesem Vertrauen auf Gott liegt das Geheimnis aller wahren Segnung und geistlichen Kraft. Einerseits haben wir uns keine Kraft anzumaßen, und andererseits dürfen wir nicht dem Unglauben unserer Herzen erlauben, der Güte und Treue Gottes Schranken zu setzen. Er kann und wird Seinem Volke die nötigen Gaben zur Auferbauung darreichen, und Er wird dies umso mehr tun, je mehr wir auf Ihn warten und nicht selbst die Hand ans Werk legen. Würde die Versammlung mehr auf Christus, ihr lebendiges Haupt und ihren liebenden Herrn, geblickt haben, anstatt auf menschliche Einrichtungen und auf die Hilfsmittel dieser Welt, wahrlich, sie würde eine ganz andere Geschichte aufzuweisen haben. Wenn wir, geleitet durch unsere ungläubigen Pläne, ruhelos unsere eigenen Einrichtungen zu treffen suchen und so den Heiligen Geist betrüben, auslöschen und hindern, was anders können wir dann erwarten als Dürre und Leere, Enttäuschung und Verwirrung? Christus genügt allezeit und für alles; aber wir müssen in Wahrheit auf Ihn harren, Ihm vertrauen und Ihn wirken lassen. Die Bahn muss völlig frei bleiben für die Wirksamkeit des Heiligen Geistes zur Entfaltung der Kostbarkeit, Fülle und Allgenugsamkeit Christi.

Aber leider fehlen wir gerade hierin am meisten. Wir suchen unsere Schwachheit zu verbergen, anstatt sie anzuerkennen; und anstatt hinsichtlich all unserer Bedürfnisse einfältig und gänzlich auf Christus zu vertrauen, suchen wir unsere Blöße mit einem selbst gewirkten Gewände zu bedecken. Wir werden des demütigen und geduldigen Wartens aus Ihn müde und sind nur zu bereit, uns den Schein der Kraft zu geben. Nichts ist törichter als das und nichts schadet uns mehr. Ach, wenn wir es nur glauben wollten, dass unsere wirkliche Kraft darin besteht, unsere Schwachheit zu kennen und anzuerkennen, und uns von Tag zu Tage an Christus anzuklammern in ungekünsteltem Glauben!

Diesen vortrefflichen Weg einzuschlagen, dazu ermahnt Judas in den Schlusszeilen seines Briefes den gläubigen Überrest: „Ihr aber, Geliebte, euch selbst erbauend auf euren allerheiligsten Glauben." (B. 20.) Diese Worte bezeugen offenbar die Verantwortlichkeit aller wahren Christen, miteinander verbunden, nicht aber getrennt und zerstreut zu sein. Wir sollen einander in Liebe dienen nach dem Maße der uns mitgeteilten Gnade und nach der Natur der uns verliehenen Gaben. Das „euch selbst erbauend" ist eine gegenseitige Sache. Wir haben nicht auf menschliche Anordnungen zu blicken, noch sollen wir bei der Klage über unseren Mangel an Gaben stehen bleiben; nein, ein jeder sollte einfältig tun, was er kann, um den gemeinschaftlichen Segen und den Nutzen aller zu fördern.

Der Leser wolle die vier Dinge beachten, zu deren Ausführung wir ermahnt werden: „Erbauen", „Beten", „Erhalten" und „Erwarten". Welch ein gesegnetes Werk ist das, und zwar ein Werk für alle! Es gibt nicht einen einzigen wahren Christen auf der Erde, der nicht einige dieser Dienstleistungen oder sie alle erfüllen könnte; ja, ein jeder ist verantwortlich, der Ermahnung des Apostels nachzukommen. Wir können uns selbst auferbauen auf unseren allerheiligsten Glauben; wir können beten in dem Heiligen Geiste; wir können uns selbst erhalten in der Liebe Gottes; und indem wir dieses tun, können wir die Barmherzigkeit unseres Herrn Jesu Christi erwarten.

Fragt man, wer die „Geliebten" seien, so antworten wir: alle, die durch die Gnade Gottes ein Anrecht auf diesen gesegneten Titel haben. Es ist nicht ein angenommener Name oder ein leeres Bekenntnis, sondern die Bezeichnung der wahren Stellung der Christen. Und ein jeder sehe zu, ob er auf dem Boden derer stehe, die also benannt sind.

Indes beschränkt sich die Verantwortlichkeit des gläubigen Überrests nicht auf die vier genannten Dinge. Er soll nicht bloß an sich denken, sondern auch in helfender Liebe seine Hand zu denen ausstrecken, die in Gefahr sind. „Und die einen, welche streiten, weiset zurecht, die anderen aber rettet mit Furcht, sie aus dem Feuer reißend, indem ihr sogar das vom Fleische befleckte Kleid hasset." (V. 22. 23.) Wer sind hier die „einen", und wer die „anderen"? Beide Ausdrücke sind ebenso unbestimmt und doch auch wieder ebenso weitumfassend wie der Ausdruck „Geliebte". Und dies ist schön; denn obwohl die Personen, an welche der Apostel denkt, nicht näher bezeichnet werden, so wird es den „Geliebten" doch nicht schwer fallen, sie ausfindig zu machen. Es gibt viele teure Seelen überallhin zerstreut inmitten der verfallenen Christenheit, von welchen die einen zurechtgewiesen, und die anderen mit Furcht gerettet werden müssen — mit göttlicher Furcht, damit die „Geliebten" nicht in ihre Befleckung mit verwickelt werden.

Die Annahme, dass man in das Feuer hineingehen müsse, um einen anderen aus demselben zu reißen, ist ganz und gar verkehrt. Vielmehr muss ich mich, um jemanden aus einer bösen Stellung befreien zu können, zunächst selbst außerhalb derselben befinden. Denn wie kann ich jemanden aus einem Sumpfe ziehen? Sicherlich nicht, indem ich in den Sumpf hineingehe, sondern indem ich mich auf festen Boden stelle und ihm von dort aus meine helfende Hand entgegenstrecke. Unmöglich kann ich jemand aus etwas herausreißen, es sei denn, ich befinde mich selbst außerhalb desselben. Darum, wenn wir den Gläubigen helfen wollen, die in das Verderben der Christenheit verwickelt sind, so müssen wir zunächst selbst entschieden davon

getrennt sein. Doch dies allein genügt noch nicht; wollen wir ihnen wirklich von Nutzen sein, so müssen unsere Herzen in lauterer, inbrünstiger Liebe allen denen entgegenschlagen, welche dem Herrn angehören.

Indem wir hiermit schließen, möchten wir die Aufmerksamkeit des Lesers noch auf die Lobpreisung lenken, mit welcher der Apostel seine ernste und wichtige Epistel beendigt: „Dem aber, der euch ohne Straucheln zu bewahren und vor Seiner Herrlichkeit tadellos darzustellen vermag mit Frohlocken, dem alleinigen Gott, unserem Heilande, durch Jesus Christus, unseren Herrn, sei Herrlichkeit, Majestät, Macht und Gewalt vor aller Zeit und jetzt und in alle Zeitalter! Amen" Wir hören in dieser Epistel viel vom Straucheln. Israel ist gestrauchelt, Engel sind gestrauchelt, Städte sind gefallen (V. 5—7); Gott aber sei Dank! da ist Einer, der uns ohne Straucheln zu bewahren vermag, und Seiner heiligen Bewahrung sind wir übergeben.


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