GVW- „Ausheimisch von dem Leibe — einheimisch bei dem Herrn"


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andere Schriften von G.V. Wigram

(2. Kor. 5, 8.)

(Nach einem Vortrag)

Zwei Dinge gehen für uns als Gläubige Hand in Hand: die Gewissheit des Kommens des Herrn und die Ungewissheit, ob wir vor Seiner Ankunft entschlafen werden oder nicht. Es ist Gott allein bekannt, ob ich bei der Rückkehr Christi „in Wolken" (1. Thess. 4, 13—18) die Hütte dieses Leibes bereits abgelegt haben werde, oder noch in ihr bin. Aber angesichts der Gewissheit Seines Kommens kann mich die Ungewissheit, ob ich in jenem wunderbaren Augenblick in oder außer dem Leibe gefunden werde, (wie tief es mich auch interessieren mag, dies zu wissen,) dennoch nicht im mindesten beunruhigen. In jedem Falle ist uns eine Segnung zugesichert, welche unsere gegenwärtige Glückseligkeit weit übertrifft; und wahrlich, wir können mit glücklichem Herzen die Verfügung über unser irdisches Haus, dieser Hütte, dem Herrn überlassen.

Es ist gut, für Ihn hienieden sein zu dürfen; es ist noch besser, sagt uns die Schrift, bei Ihm zu sein; doch das Beste von allem ist: wenn ich entschlafen bin, in Seinem Bilde zu erwachen, oder wenn ich bei Seiner Ankunft noch leben sollte Ihn zu sehen, wie Er ist. Dies, die beste Sache, und nicht nur die bessere (obgleich diese auch sehr gesegnet sein mag,) ist es, was der Herr stets als das Ziel unserer Hoffnung vor uns stellt; nichts Geringeres als das bildet „den Kamps-, preis", dem wir nachjagen, oder die ersehnte Vollendung, wenn Er und wir mit Ihm verherrlicht sein werden. (Kol. 3,-4.) Die Tatsache, dass in der Schrift der Geist Gottes die Zuneigungen unserer Herzen stets mit der Ankunft des Herrn verbindet, sollte für jeden Gläubigen ein genügender Beweis sein, dass das Beste, das, was den Gegenstand dieser „glückseligen Hoffnung" bildet, Seine Erscheinung ist, und dass wir, wenn wir dieselbe nicht lieb haben (2. Tim. 4, 8), wenn etwas anderes an die Stelle jener Hoffnung getreten ist, weder in einem guten Zustande sind, noch mit den Gedanken Gottes in Übereinstimmung stehen. Aber während dieses unbestreitbar ist und nicht oft genug hervorgehoben werden kann, dringt doch die Tatsache, dass so viele Gläubige seit der ersten Mitteilung dieser glückseligen Hoffnung, entschlafen sind, und dass einer nach dem anderen aus unserer Mitte zu der ewigen Ruhe abgerufen wird, uns ein tiefes und stets wachsendes Interesse an dem Charakter der Segnungen dieser in Jesu Entschlafenen auf.

Der Schächer, in welchem die Gnade noch auf dem Fluchholze wirkte, bedurfte, so gesegnet wie die neuen Wünsche seines Herzens auch waren, Licht über drei Punkte, deren jeder von hervorragender Wichtigkeit ist. Er bat, dass der Herr (1) seiner gedenken möge (2) bei Seinem Kommen (3) in Seinem Reiche. Der Herr verbesserte und übertraf jeden Teil seiner Bitte, indem Er ihm verhieß, dass er (1) noch an jenem Tage (2) mit Ihm (3) im Paradiese sein sollte! Die wenigen Worte des Herrn hier enthalten die volle Belehrung der Schrift über die Segnung derer, welche diese Hütte ablegen; und wenn wir dieselben mit dem Zeugnis Pauli in Verbindung bringen, dass nämlich, sobald der Gläubige „ausheimisch von dem Leibe" ist, er „einheimisch bei dem Herrn" ist, dass „abzuscheiden und bei Christo zu sein, weit besser," und das „Sterben Gewinn" ist, so sehen wir deutlich, dass der von seiner irdischen Hülle gelöste Geist (1) die Glückseligkeit genießt, bei Christo zu sein, was weitaus jede hienieden genossene Segnung übertrifft, (2) dass diese Glückseligkeit eine unmittelbare ist, (3) dass sie in dem Paradiese Seiner Gegenwart genossen wird.

Aber wenn dies auch die unmittelbaren, uns von dem Heiligen Geiste in dem Worte Gottes mitgeteilten Belehrungen zusammenfaßt, so dürfen wir dennoch ruhig behaupten, dass die Glückseligkeit, in welche der Geist des Gläubigen unmittelbar nach Ablegung seiner irdischen Hütte eingeführt wird, eine sehr mannigfaltige ist und von den verschiedensten Gesichtspunkten aus betrachtet werden kann. Befreit von dem Leibe, ist er auch sofort von dem Gegenstande, dem beschwerenden Gewicht erlöst, welches ein irdischer Leib (so passend derselbe für die Übungen des Glaubens auch sein mag und als ein Werkzeug für den Dienst des Herrn in dieser sündhaften Welt gebraucht werden kann) notwendigerweise seiner Freiheit auferlegen muss. Mit welch einer neuen Freude werden wir dann erkennen, dass wir niemals mehr Sein liebevolles Herz betrüben, noch je Schmach und Unehre auf Seinen kostbaren Namen bringen können; dass Sünde und Schmerz, Mühsal und Unruhe, Sorge und Streit, überhaupt alles, was geeignet ist, unsere Liebe und Zuneigung zu dem Herrn zu schwächen oder deren Ausfluss zu verhindern, samt alledem, was uns hienieden immer wieder an den Fall und den Fluch erinnert, für ewig hinter uns liegt! Seien es meine menschlichen Bedürfnisse und Schwachheiten als Geschöpf, oder mein kranker und leidender Zustand als ein gefallenes Wesen, oder endlich diese irdische Hütte als das Werkzeug, in welchem der Eigenwille wirken will, die Behausung, in welcher das Fleisch wohnt — von allem bin ich für immer befreit, sobald ich diesen Leib verlasse. Nie mehr werde ich ein Bedürfnis oder irgendwelche Ermattung kennen; nie mehr wird Schmerz oder Kummer mein Teil sein; nie mehr wird ein verkehrter Wille wirken, nie mehr eine fleischliche Gesinnung, ein Herz, welches Feindschaft gegen Gott ist, sich zeigen! Sobald ich den Leib ab- lege, ist jede Verbindung mit dem Fleische und seiner ruhelosen Tätigkeit, mit der Welt und ihren Grundsätzen tatsächlich abgebrochen. Jede Gemeinschaft mit dem ersten Menschen und der alten Schöpfung, mit der Welt des Menschen und dem Gott dieser Welt ist dann für immer gelöst, um nie wieder angeknüpft zu werden. Welch eine Befreiung von der Feindschaft und List Satans; welch ein Entrinnen aus jeglichem Strick des Vogelstellers, ja selbst aus der Welt, dem unrechtmäßig erworbenen Reiche Satans! Dann bin ich nicht länger seinem immerwährenden Gegenstand gegen Christum und diejenigen, welche Sein sind, ausgesetzt; dann liegt die Wüste hinter mir mit allen ihren schmerzlichen Erfahrungen von Kampf und Streit; dann ist der Hafen erreicht, wo alles Böse ausgeschlossen ist, wo alle Mühe und Arbeit in der ewigen Ruhe und dem Genuss Seiner Gegenwart enden wird!

Es ist ein beglückender und ermunternder Gedanke, dass mein Leib, als ein Glied Christi, wegen Seines in mir wohnenden Geistes auferstehen wird; während mein Geist — da ich ja „ein Geist" mit dem Herrn bin, eins mit Ihm in lebendiger, ewiger Vereinigung, sei es nun in oder außer dem Leibe — zu Gott zurückkehrt und jenen ewigen Hafen in der Gegenwart Christi findet, welcher die Wiedervereinigung mit dem Leibe zur Zeit Seines Kommens sichert.

Mit Ausnahme des Herrn selbst war wohl nie jemand mehr über den Umständen erhaben als Paulus; er konnte sagen: „In jedem und in allem bin ich unterwiesen, sowohl satt zu sein als zu hungern, sowohl Überfluss zu haben als Mangel zu leiden. Alles vermag ich in Dem, der mich kräftigt." (Phil. 4,12.13.) Und doch konnte derselbe Apostel sagen: „Ich habe Lust abzuscheiden." Niemand hatte einen wichtigeren Dienst, der ihn mehr an die Erde hätte fesseln können wie er; niemand war als Diener befähigter und hingebender als Paulus. Sein bemerkenswertes Sicheinsmachen mit den Interessen Christi auf der Erde findet sich in den Worten ausgedrückt: „Das Leben ist für mich Christus", und doch fügt er sogleich hinzu: „und das Sterben Gewinn".

Es gibt drei Gesichtspunkte, unter welchen der abgeschiedene Gläubige betrachtet werden kann:

1. hinsichtlich dessen, dem er entgeht oder was er ausgibt;

2. hinsichtlich dessen, was er behält, und

3. dessen, was er erwirbt oder gewinnt.

Der erste Punkt, d. h. dasjenige, welchem der Gläubige entgeht, ist im Vorhergehenden schon genügend behandelt worden. Was er aufgibt, ist ebenfalls leicht zu erkennen, obwohl es vielleicht oft nicht genügend beachtet wird; anders würden wir den gegenwärtigen Abschnitt der Geschichte unserer Seele wohl mehr schätzen und würdigen. Jeder von uns hat ohne Zweifel schon öfters in seine Jugend zurückgeblickt und dabei Gelegenheit gehabt, über böse, nie mehr gutzumachende Tage, sowie über unbenutzte, nie wiederkehrenden Gelegenheiten zum Gutestun zu trauern.

So wie nun diese Frühlingszeit des Lebens allen nachfolgenden Jahren ihren Stempel aufdrückt, so wird gewiss auch die Frühlingszeit der Seele, wenn ich sie so nennen darf, ihre Merkmale für die Ewigkeit tragen; denn ich lerne jetzt und erfahre hier etwas, was ich, wenn ich die gegenwärtige Gelegenheit versäume, überhaupt nie mehr lernen oder erfahren werde.

Ja, die Pilgerzeit hienieden ist die Zeit der Schülerjahre für die Seele, in welchen sie, je nach ihren Fortschritten, einen höheren oder niedrigeren Grad erreicht. Alles dieses geben wir auf, wenn wir den Leib verlassen. Wahrlich, wenn die geliebten Kinder Gottes mehr in dem Bewusstsein dieser Tatsache lebten, so würden nicht so viele diese kostbare Frühlingszeit mit unnützen Dingen vergeuden, eingedenk des Wortes: „Wache auf, der du schläfst und stehe auf aus den Toten, und der Christus wird dir leuchten !" (Eph. 5,14.) Ferner gebe ich, wenn ich den Leib verlasse, den Zeugenpfad und Dienst für einen hienieden verworfenen Herrn auf, die äußere und sichtbare Gemeinschaft der Gläubigen, sowie den Tisch des Herrn mit den reichen und beglückenden Dingen, welche mit ihm in Verbindung stehen; ich nehme nicht mehr teil an der Bemühung, die Einheit des Geistes zu bewahren in dem Bande des Friedens, noch an den Betätigungen der Bruderliebe, an den Gebeten, an der Erzeigung des Mitgefühls, der Freigebigkeit und Gastfreundschaft, an der praktischen Absonderung vom Bösen, was Jakobus einen „reinen und unbefleckten Gottesdienst" nennt — alle diese Übungen liegen für immer hinter mir. Glaube, Geduld, Abhängigkeit und Gehorsam treten, wenigstens unter den Bedingungen, unter welchen der Gläubige sie hienieden zu üben berufen ist, ganz außer Tätigkeit.

Bezüglich des zweiten Punktes — das, was wir behalten — darf ich versichert sein, dass ich alles das behalten werde, was die Gnade Gottes mir für die Ewigkeit anvertraut hat. Ich besitze das ewige Leben, diese Segnung der neuen Schöpfung, und werde fortfahren es in der Kraft des Heiligen Geistes zu genießen; dasselbe gilt von der Vereinigung mit Christo, von dem Frieden, der allen Verstand übersteigt, von jener unaussprechlichen und verherrlichten Freude, von welcher Petrus redet, von den Verbindungen und Beziehungen, in welche die Gnade mich eingeführt hat und die nie geschwächt oder vernichtet werden können.

Was endlich den „Gewinn" anbelangt, so ist es klar, dass ich endgültig in die Ruhe eingegangen bin — in eine vollkommene und tiefe Ruhe, die nie mehr gestört, nie mehr unterbrochen werden wird. Welch eine wunderbare Befreiung und Ausdehnung wird mein Geist erfahren, wenn er aus dem Nebel und Dunst dieser niedrigen Atmosphäre in diejenige der Gegenwart Christi hinübergehen wird! Wie süß wird die Überzeugung sein, dass ich in diese gesegnete Gegenwart für immer eingegangen bin, dass ich endlich in jenem neuen Bereiche des ungestörten Friedens weilen darf, welcher durch die Gegenwart meines teuren Herrn und Heilandes gekennzeichnet ist!

Aber obgleich mit dem Herrn selbst in dem tiefen Frieden einer ewigen Ruhe vereinigt und eine ungetrübte Glückseligkeit mit Ihm genießend, warte ich doch noch auf Sein Kommen an jenem Morgen ohne Wolken, wann Er — zur Freude Seines eigenen Herzens — die Leiber Seiner teuer Erlösten, welche Er in allen Jahrhunderten und unter jedem Himmelsstrich hat entschlafen lassen, aus ihren Gräbern Hervorrufen wird. Einst wartete ich hier auf Ihn auf dem Schauplatz Seiner Verwerfung; aber der Schlaf überfiel meinen schwachen Leib, (obwohl mein Herz noch wachend war,) mein Geist ging hinüber in Seine Gegenwart, und nun warte ich weiter — mein Warten wird mehr dem Seinigen gleich, ich warte mit Ihm!

Es ist aber nicht genug, bei Ihm in Seiner Gegenwart zu sein, so unaussprechlich herrlich das auch sein mag, ich wünsche Ihm gleichgestaltet zu werden, denn das ist für Sein Herz eine Ursache ganz besonderer Freude; doch hierfür bedarf ich einen verherrlichten Leib, und so warte ich weiter! Es ist nicht genug, dass Er mit Ehre und Herrlichkeit auf Seines Vaters Thron gekrönt ist — ich sehne mich nach dem Augenblick, da Seine Herrlichkeit im Himmel und auf Erden geoffenbart sein wird; ich verlange danach, Sein Haupt mit vielen Diademen bedeckt zu sehen und das neue, Seinen ewigen unendlichen Wert verkündende Lied anzustimmen. „Würdig ist das Lamm!" Ich sehne mich danach, Ihn im Vaterhause droben zu sehen, wie Er der ganzen Inbrunst Seiner treuen Liebe zu Seiner Braut Ausdruck gibt, sowie der unaussprechlichen Freude, welche Sein Herz erfüllt, wenn einmal alle Dinge nach Seinen Gedanken geordnet sind, und alles im Himmel und auf Erden Ihm Preis und Ehre bringen wird von Ewigkeit zu Ewigkeit!

Allen jenen gesegneten, sehnsuchtsvollen Wünschen des Geistes, welche Ihn selbst zum Gegenstände haben, würde ich dann ungehindert nachhängen können und so dem Besten, dem Vorzüglichsten, der Herrlichkeit selbst, gewissermaßen zuvorkommen. Mein Geist wird umso sehnlicher und inbrünstiger nach allen diesen Dingen verlangen, wenn ich einmal ausheimisch von dem Leibe bin, und wird mit dem Ausharren Christi darauf warten. Denn alles, was mein Herz jetzt (in dem Leibe) begehrt oder dann (ausheimisch von dem Leibe) begehren wird, kann nur durch Sein Kommen in den Wolken vollständig befriedigt werden.

Dann werden wir die Anbetung von neuem beginnen, und zwar unter den Bedingungen, welche allein mit einer wahren, vollkommenen Anbetung vereinbar sind; dann werden wir in verherrlichten Leibern als erlöste Heilige das neue Lied singen. Dann erst wird Er die volle Frucht der Mühsal Seiner Seele sehen und gesättigt werden; dann erst wird Er uns tadellos darstellen vor Seiner Herrlichkeit mit Frohlocken; dann erst wird Er uns zu Tische liegen lassen und herzutretend uns bedienen; dann erst wird Er jeden Wunsch, der durch die Erkenntnis Seiner selbst in uns hervorgebracht worden ist, vollkommen und für ewig befriedigen. Auf diesen Augenblick wartet Sein Herz mit Sehnsucht; und der Geist und die Braut rufen: „Komm!" Und Er, welcher diesen Ruf mit Freuden vernimmt, antwortet so gern: „Ja, ich komme bald", indem Er Sein feierliches „Amen" hinzufügt. Und wenn wir, gleich dem geliebten Jünger, unser Haupt — obwohl in einer anderen Weise — an Seine Brust legen, so werden wir, (ob in dem Leibe oder außer dem Leibe,) mit Freuden antworten: „Amen, ja, komm, Herr Jesu!"


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