GVW- Das Werk der Gnade


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andere Schriften von G.V. Wigram

„Alsdann werden zwei Räuber mit Ihm gekreuzigt, einer zur Rechten und einer zur Linken. Die Vorübergehenden aber lästerten ihn, indem sie ihre Köpfe schüttelten und sagten: Der du den Tempel abbrichst und in drei Tagen aufbauest, rette dich selbst. Wenn du Gottes Sohn bist, so steige herab vom Kreuze. Gleicherweise aber spotteten auch die Hohenpriester samt den Schriftgelehrten und Ältesten und sprachen: Andere hat er gerettet, sich selbst kann er nicht retten. Er ist Israels König, so steige er jetzt vom Kreuze herab, und wir wollen an ihn glauben. Er vertraute auf Gott, der rette ihn jetzt, wenn er ihn begehrt; denn er sagte: Ich bin Gottes Sohn. — Auf dieselbe Weise schmähten Ihn auch die Räuber, die mit ihm gekreuzigt waren. (Matth. 27, 38-44.)

„Einer aber der gehenkten Übeltäter lästerte Ihn und sagte: Bist du nicht der Christus? Rette dich selbst und uns! Der andere aber antwortete und strafte ihn und sprach: Auch du fürchtest Gott nicht, da du in demselben Gericht bist? und wir zwar mit Recht, denn wir empfangen was unsere Taten wert sind; dieser aber hat nichts Ungeziemendes getan. Und er sprach zu Jesu: Gedenke meiner, Herr, wenn du in deinem Reich kommst! Und Jesus sprach zu ihm: Wahrlich ich sage dir: heute wirst du mit mir im Paradiese sein. (Luk. 23, 39—43.) Der Heiland, der Sohn des Menschen, hing sterbend am Kreuze; Er, der Gerechte, an der Stelle der vielen Ungerechten, indem Er unsere Sünden an Seinem Leibe auf das Holz trug. Das war Sein großes Werk für uns. Aber von den beiden Übeltätern, zwischen welchen Er gekreuzigt wurde und die Ihn beide geschmäht hatten, wurde der eine bekehrt und zeigte, dass ein Werk der Gnade in ihm vor sich gegangen war.

Das Werk der Gnade für uns und das Werk der Gnade in uns sind nicht ein und dasselbe, ebenso wenig wie der Tod Christi für den Schächer und die Veränderung im Innern desselben, vermittelst deren er aufhörte, ein Lästerer zu sein und zu einem Bekenner Jesu wurde. Das erstere Werk liegt ganz außer uns und ist durch Christum geschehen, während das letztere in uns geschieht, obwohl es dort auch durch die Gnade gewirkt wird.

Ich möchte... nun einige Gedanken, welche sich an diesen wichtigen Gegenstand anknüpfen, aussprechen.

Und zuerst: Was ist es, dass Gott und den Sünder hindert, einander zu begegnen und zusammen zu sein? Wohl ist der Wille des Sünders Gott entgegen, sein Herz ist von Gott entfremdet, und ohne Zweifel würde er, wenn er in das Licht der Gegenwart Gottes träte, sehr bald die ganze Sünde des Geschöpfes aufgedeckt sehen. Jedoch lag diese Schwierigkeit nicht in dem Geschöpf, so versunken, gottentfremdet und verfinstert dasselbe auch sein mag, und wie unpassend es für die Heiligkeit und Majestät der Gegenwart Gottes ist. Es gab eine andere Frage von viel höherer Wichtigkeit, und zwar diese: Wie konnte Gott in Seiner Heiligkeit und Gerechtigkeit einem Sünder begegnen, welcher durch die Sünde Gott verunehrt hat? Sünde ist eine Beleidigung Gottes, eine Beleidigung Gottes in Seiner Majestät und Seinem Wesen; und die Seele, welche in das Licht gelangt, weiß, dass es sich so verhält.

Soweit es Gott angeht, ist das Werk der Gnade in uns niemals von dem Werke der Gnade für uns getrennt. Seit dem Sündenfall und der Verbannung des Menschen aus Eden wirkte Gott in dem Menschen, aber immer nur auf Grund des Werkes, welches Er für ihn zu tun beabsichtigte. Und indem Er- also in dem Menschen wirkte, hat Er stets dem Verstand desselben einen Gegenstand vorgestellt, in welchem das Werk für den Menschen vorbildlich dargestellt wurde. Das von Abel dargebrachte Opfer, die Opfer in Verbindung mit der Anbetung der Patriarchen und später die der Stiftshütte, alle deuteten auf. das Werk hin, welches Christus für den Menschen tun sollte — ein Werk, welches die Gerechtigkeit Gottes erweist, auf Grund dessen Er auch den Sünder rechtfertigen kann, und welches allein das Gewissen eines Sünders in Bezug auf seine Sünde zu befriedigen vermag. Allein das Werk in dem Menschen ging in allen diesen Fällen ' dem Werk für den Menschen voraus. Auf Golgatha gab der Sohn des Menschen sich selbst zum Lösegeld für uns dahin, und von jenem Tage an ist dem Werk der Gnade f ü r uns nichts hinzugefügt worden, nichts Neues seit der Zeit, da Er „durch ein Opfer auf immerdar vollkommen gemacht hat, die geheiligt werden." Aber obwohl das Werk für den Menschen ganz vollendet ist, so ist doch das Werk der Gnade in dem Menschen jetzt ebenso notwendig wie jemals. Dass es in dem Menschen durch den Heiligen Geist gewirkt wird durch den Glauben an das für den Menschen vollbrachte Werk, ist wahr; aber es muss in dem Menschen gewirkt werden, oder der Mensch ist verloren.

Die Eigentümlichkeit der Bekehrung des Räubers am Kreuze besteht darin, dass es ein Fall ist, in welchem die Gnade i n einem Menschen wirkte, — um sein Herz für Christum zu öffnen — in demselben Augenblick, als Christus damit beschäftigt war, für den Menschen das Werk zu vollbringen, ohne welches weder für Gott der Weg geöffnet gewesen wäre, den Menschen zu segnen, noch für den Menschen sich Gott zu nähern, um das Heil zu erlangen.

Der Unterschied zwischen diesen beiden Dingen wird dieserhalb leichter vernommen, und es mag diesem oder jenem behilflich sein, einzusehen, dass sie nicht miteinander verwechselt werden dürfen, und wie unmöglich es ist, das eine an die Stelle des andern zu setzen.

Die Gerechtigkeit hatte die beiden Räuber ihrer Missetaten wegen dem schrecklichen Kreuzestod anheimgestellt. Dort hingen sie von einer Menge umgeben, die zusammengekommen war, um den sterbenden Heiland zu schmähen und zu lästern.

-Die Räuber hörten diese Schmähungen, und dann schmähten sie auch mit. Jedoch fand plötzlich bei dem einen eine gänzliche Veränderung statt. Das Licht leuchtete in seine Seele hinein, und in seinem Fall war es das Licht des Lebens.

Gott hatte seinen rechtmäßigen Platz in der Seele dieses Menschen bekommen. Die Wirkung war unmittelbar ; und beachten wir — er straft seinen Genossen: „Auch du fürchtest Gott nicht, da du in demselben Gericht bist? und wir zwar mit Recht, denn wir empfangen, was unsere Taten wert sind; dieser aber hat nichts Ungeziemendes getan." Wenn die Leuchte Jehovas einen Menschen durchdringt, so zeigt sie ihm sicher die Sünde, die in ihm ist. Es muß so sein, denn Gerechtigkeit und Heiligkeit sind unzertrennlich mit dem Lichte Gottes verbunden; und der Mensch ist unheilig. Das Licht deckt das Unheilige auf und macht es offenbar. Doch gibt es in dieser Erfahrung des Räubers ein anderes Gefühl, welches sich offenbart. Er erkennt, dass die Sünde unzertrennlich mit ihm verbunden ist, und doch verurteilt er sie ohne Zögern. Er straft seinen Genossen wegen derselben Sache, die er kurz vorher selbst getan, und von welcher er eben erst Abstand genommen hatte.

Ein solches Handeln war nach dem Urteil der Menschen ganz ungereimt. Wenn aber das Gewissen in die Gegenwart Gottes kommt, so urteilt es in einer Weise, welche mit menschlichen Gedanken über Folgerichtigkeit und das, was sich für den Menschen geziemt, in Gegenspruch ist. Als Mensch handelte der Räuber ganz ungereimt, aber als ein Gläubiger war er durchaus konsequent. Diese erste Furcht vor der Sünde und dieser Hass gegen die Sünde veranlasst, dass wir unseren Mund in den Staub legen und die Sünde in uns selbst, d. h. unser ganzes eigenes Ich, verurteilen. Ein gesegneter Charakterzug der von neuem geborenen Seele also besteht darin, dass die Sünde verurteilt wird, denn sie ist hassenswürdig. Dieses wahre Bewusstsein vor: dem, was die Sünde ist, ist sehr verschieden von der Furcht vor den Folgen der Sünden. Die Furcht vor den Folgen der Sünde und der Sünden mag die Seele beunruhigen und beängstigen und sie bewegen, den Heiland zu suchen. Aber wenn das Licht des Lebens in lebendigmachender Kraft in die Seele scheint, so lernt sie die Sünde nach einem ganz anderen Maßstab beurteilen. „Auch du fürchtest Gott nicht, da du in demselben Gericht bist? und wir zwar mit Recht, denn wir empfangen, was unsere Taten wert sind; dieser aber hat nichts Ungeziemendes getan." Welch ein volles Bekenntnis finden wir hier! Es war ein Aufgeben jedes Anspruchs auf menschliche Gerechtigkeit.

„Wir zwar mit Recht, denn wir empfangen was unsere Taten wert sind." Es war Licht, welches in seine Seele leuchtete, und zwar nicht unbestimmt und undeutlich, sondern hell und klar; denn es ließ ihn den Gegensatz erkennen zwischen sich und dem Christus Gottes: „Dieser aber hat nichts Ungeziemendes getan." Er selbst und Christus standen vor seinem Gewissen einander gegenüber, aber seine Sprache war die Sprache des Glaubens; und, unwissend wie er war, gab er doch in der Stunde, da der Herr von allen verlassen war, eine Beschreibung von ihm, welche Gott nur in Bezug auf Christum als wahr anerkennen wird. „Dieser hat nichts Ungeziemendes getan," wird in der Herrlichkeit verkündigt werden, als wahr von Christo allein; und alle von uns, welche dort sein werden, werden diese vollkommen richtige Beschreibung als allein Ihm geltend erkennen und anerkennen. Von dem ganzen Geschlecht Adams, vom Garten Eden bis zur Aufrichtung des großen weißen Thrones, gibt es nicht einen, außer dem Samen des Weibes, von welchem in Wahrheit gesagt werden könnte: „Dieser hat nichts Ungeziemendes getan."

Gott, dir Sünde, er selbst, der Mann, welcher der Genosse Jehovas ist — diese waren nicht allein neue Erfahrungen für seine Seele, sondern sie zeigten auch, dass der Räuber von neuem geboren, ja, dass er in eine Welt des Lichts gelangt war, wo die Dinge genau so gesehen werden, wie sie in Wirklichkeit sind. Allein sein Glaube ging noch weiter, und er erkannte nicht nur die persönliche Vortrefflichkeit des Sündlosen, der an seiner Seite hing, sondern auch, dass in Ihm ein Herz war, auf welches er, trotz des großen Gegensatzes zwischen Christo und ihm selbst, jede Sorge werfen konnte. „Herr, gedenke meiner, wenn du in deinem Reiche kommst!" Die Herrlichkeiten, das Reich und die Majestät des Herrn offenbaren sich seiner Seele — Sünder wie er war —, und. doch sah er, dass in Christo allein die einzige Ruhe, die einzige Hoffnung für ihn war. Das ist ebenfalls ein Trieb der neuen Natur. Sie sieht und erkennt an den Gegensatz zwischen dem, was der Christus ist, und dem, was wir sind, klammert sich aber an Ihn trotz des eignen Elends und trotz Seiner Herrlichkeit — ja, sie klammert sich an Ihn in dem Bewusstsein, dass ihre ganze Errettung nur in Ihm ist.

Wenn wir Gefäße der Gnade Gottes sein sollen, so können wir versichert sein, dass ein ähnliches Werk i n uns stattgefunden haben muss, und wir sollten im Stande sein, von ihm als einem Werke des Herrn in uns zu erzählen. Es ist ein Werk, durch welches die Seele gerade dahin gebracht wird, wohin das Werk Gottes in dem Räuber jenen brachte, nämlich in eine erwartende Stellung dem Herrn gegenüber. Es bringt sie dahin, wo der Herr ihr einige der überschwänglichen Reichtümer Seiner Gnade offenbaren kann, gerade so wie Er es tat in Seiner Antwort an den Räuber. Dieser bat, dass der Herr seiner in dem Reiche gedenken möge; und Jesus antwortete: „Wahrlich ich sage dir, heute wirst du mit mir im Paradiese sein."

Christus hatte Seinen rechtmäßigen Platz in der Seele dieses armen Sünders bekommen, darüber konnte kein Zweifel bestehen, und dieser Platz war sein von dem Augenblick an, da das steinerne Herz zerbrochen war. Aber, das was der Schächer in seiner eigenen Seele erfuhr, das gesegnete Werk, welches Gott dort verrichtete, obgleich es ihn befähigte, die Gnade zu empfangen, konnte doch nicht vor Gott den Platz des Blutes des Lammes einnehmen. Es konnte weder Gott rechtfertigen in Seiner Rechtfertigung eines Räubers, noch dem Räuber Klarheit geben über das, was seine Rechtfertigung vor Gott in dem Lichte war. „Ohne Blutvergießung keine Vergebung." Christus war dort, um Sein Leben zum Lösegeld zu geben, zu sterben, der Gerechte für die Ungerechten. Und ob jener Schächer oder irgendein anderer Sünder je errettet worden wäre oder nicht — nachdem Christus aus den Toten auferstanden und in den Himmel eingegangen war, ist der Weg völlig geoffenbart, auf welchem Gott den Gottlosen segnen, und dieser in Frieden Gott nahen kann.

Das Werk der Gnade in uns kann somit nicht an die Stelle dieses Werkes der Gnade für uns gesetzt werden. Das Werk der Gnade in mir an und für sich kann Gott in Seiner Heiligkeit nicht rechtfertigen, wenn Er mir, dem Sünder, in Gnaden begegnet. Und da das Werk, welches Gott in nur tut, ein Werk der Gnade ist, so ist es klar, dass Gott mir schon in Gnaden und zu meinen Gunsten entgegengekommen sein muss, ehe jenes Werk i n mir überhaupt getan wurde. Überdies befriedigt es aus demselben Grunde mein Gewissen nicht, wenn letzteres sich vor Gott befindet — nichts, was mir ein vollkommenes Gewissen geben könnte.

Gott hat gewiss das Recht, ohne Zustimmung des Menschen und trotzdem, was der Mensch ist, zu handeln. Niemand kann zu Ihm sagen: „Was tust du?" Aber dann hat Er einen Ihm eigenen Charakter, den Er nie verleugnen wird. Und wenn Er begnadigt, wen Er begnadigen will, und sich erbarmt, wessen Er sich erbarmen will, so tut er es in einer Weise, die Seine Heiligkeit und Gerechtigkeit aufrecht erhalt, und welche das Gewissen im Menschen erhebt, während sie demselben vollkommene Freiheit und Freimütigkeit gibt, Gott im Lichte zu nahen.

Manche mögen die Rechtfertigung aus Glauben allein bekämpfen; aber sie können sich darauf verlassen, dass, wenn sie je einmal in dasselbe Licht kommen, in welchem der Schächer sich befand, sie bald ihr eigenes Elend erkennen werden, und dass es eine anziehende Schönheit in Christo gibt, der allein die volle Errettung der Seele ist.

Viele mögen den Glauben in ein eignes Werk verkehren, aber sie werden finden, dass der Geist sie des Unglaubens überführt, und dass es keine Ruhe für sie gibt, als nur in dem Herrn selbst und in Seinem Werke, welches Er für arme Sünder vollbracht hat. Seit dem Herniederkommen des Heiligen Geistes am Pfingsttage beruht das Zeugnis Gottes auf diesem Werke. Durch dasselbe wurden die Himmel geöffnet, um den Heiligen Geist herniederkommen zu lassen, in dessen Kraft wir jetzt durch den Glauben hinzunahen können.

Die Seele, welche das Zeugnis Gottes aufnimmt, findet ihre Gewissheit allein in dem Werke, welches ihr von Gott so dargestellt wird, nicht aber in ihren eignen Gefühlen, Gedanken oder Erfahrungen. So hat es Gott gefallen, die Sache zu ordnen. Das Licht birgt das Zeugnis Gottes in sich und versetzt mich vor Seinen Thron, auf welchen Er Christum erhoben hat, welcher unsere Sünden an Seinem eigenen Leibe auf das Holz trug. Und der Gott und Vater unsers Herrn Jesu Christi hat sich geoffenbart als der Gott, welcher sich ein Lamm vorgesehen hat, um Seine Gnade gegen alle zu erweisen.


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