(Auszug.)
. . . Wir haben hier einen Sarg vor uns, und darin ruht der Leib eines bejahrten und dem Herrn gewidmeten Gläubigen. Er lebte unter uns glücklich in dem Herrn, voller Liebe zu Seinen Heiligen, und nun ist er hinweggegangen. Doch wohin? Zu dem Herrn Jesu. Ist Er es nicht wert, die Seinigen bei sich zu haben? Denkt ihr, Er habe etwa dem Ratschluss Gottes vorgegriffen, indem Er diesen heimrief — „heim" zu sich, der ja selbst die Heimat ist? Mit Nichten. Das Wort: „Wenn ihr mich liebtet, so würdet ihr euch freuen, dass ich zum Vater gehe, denn mein Vater ist größer als ich", kann auch auf diesen Fall angewandt werden. Oder haben wir keine Liebe zu denen, welche heimgehen? keine Liebe als zu uns selbst? keine Bereitwilligkeit, sie gesegnet zu wissen, wenn ihr Gesegnetsein uns irgendwelche Entbehrung auflegt? Elende, jämmerliche Selbstsucht, welche Gottes und Christi Freude vergisst bei der Bewillkommnung einer Seele, die uns verlässt, in Seiner Gegenwart. Diese Selbstsucht ist es auch, die uns verhindert, an den großen Gewinn für die Heimgegangenen zu denken, indem wir uns in den Gedanken an den eigenen Verlust versenken. Vielmehr sollten wir entrüstet sein über unsere Selbstsucht, die wir, von uns selbst erfüllt, keine Gedanken haben für Gott, Christum und die Heimgegangenen, die wir zu lieben bekennen. Nun aber will Gott, dass unsere Herzen es erfahren, wie vollkommen Christels uns inmitten der Leiden und Bekümmernisse dieser Wüste genügen und befriedigen kann. Er will, dass wir an den Herrn denken, dem Er uns angetraut hat, und an Seine Freude, die hier in Ihm Entschlafenen bei sich zu haben; ja, dass wir jener Sphäre gemäß denken und fühlen lernen, in welcher Christus jetzt der wahre Mittelpunkt ist.
Was vermag ich euch von der Glückseligkeit der Heimgegangenen Heiligen mitzuteilen? Ich kann nur mit einer anderen Frage antworten: Was kennt ihr jetzt schon von der Anziehungskraft Christi, von der Seligkeit bei dem Herrn zu sein? Denn, wenn das eigne Ich und die Selbstsucht euch erfüllen, so kann ich nur sagen, dass diese Dinge ihre Nahrung in dieser Welt finden. Wenn wir von unserm eignen Ich erfüllt find, von dem, was uns angenehm oder unangenehm ist, von unserm Nutzen oder Verlust, so werden wir aus der Lehre von der Seligkeit derer, welche „ausheimisch vom Leibe, einheimisch bei dem Herrn" sind, wenig Nutzen ziehen. Sie verträgt sich nicht mit unserer Selbstsucht, und wir lieben es auch nicht, zur Rechenschaft gezogen zu werden, ob wir mehr Anziehendes in Christo finden als in allem andern. „Heute wirst du mit mir im Paradiese sein", war das gesegnete Wort des Herrn an den bekehrten Räuber. Was wusste der Schächer von dem Paradiese oder seiner Seligkeit? Vielleicht gar nichts. Doch hatte er soeben einen neuen Freund gefunden, desgleichen sonst keiner zu finden war. Der Glaube hatte ihm das offene und anziehende Herz des hochgelobten Herrn geoffenbart. Durch den Glauben war das Herz des Schächers für die Heiligkeit, sowie für das Bekenntnis geöffnet; er war mit Vertrauen zu seinem Richter erfüllt und wurde durch die köstliche Zusage angezogen, nie mehr von diesem Herrn getrennt zu werden: „Wahrlich ich sage dir: Heute wirst du mit mir im Paradiese sein." (Luk. 23, 43.) „Mit Ihm," das war> genug. „Ausheimisch von dem Leibe und einheimisch bei dem Herrn sein," (2. Kor. 5, 8) war das „weit Bessere," welches Paulus als das Teil eines Hingeschiedenen Heiligen kannte.
Was nun die Herrlichkeit betrifft, so kommt wohl keine Beschreibung jener gleich, die wir in den Worten ausgedrückt finden: „und so werden wir allezeit bei dem Herrn sein." (1. Thess. 4, l7.) Doch gerade dies führt uns auf die Frage bezüglich des Maßes unserer Erkenntnis und Wertschätzung des Herrn Jesu Christi zurück. Diejenigen, welche Ihn jetzt gut kennen und Ihn über alles schätzen, werden auch viel Trost und Freude in dem Gedanken finden, bei Ihm zu sein. Sie haben Seinen Geist und wandeln in demselben, und dieser Geist kennt für die Heiligen nichts, was diesem „einheimisch bei dem Herrn sein" gleich käme.
Wenn ihr aber einen Heiligen liebt, der eben hinaufgegangen ist wie Stephanus, so lasst doch in euerm Herzen und Sinne ein wenig Raum für den Gedanken an die Freude dessen, den ihr liebt, und der die Gegenwart des Herrn und den Genuss derselben zu würdigen wusste. Wie glücklich ist der Heimgegangene jetzt in der verwirklichten Gegenwart des Herrn! Wenn ihr ihn liebhattet, so lasst doch die gegenwärtige Seligkeit dessen, den ihr liebtet, und der nunmehr in der Gegenwart des Herrn ist, das Gefühl eures Verlustes und eurer Entbehrung aufwiegen. Es dauert nur noch eine kleine Weile, vielleicht eine sehr, sehr kleine Weile, bis der Herr sich von dem Throne des Vaters erheben wird. Wenn Er jetzt käme, so würde dieser vor uns liegende Leib nicht in die Gruft gesenkt werden, sondern er würde auferstehen zum Leben und zur Herrlichkeit, und wir würden verwandelt werden und zugleich mit ihm entrückt werden in Wolken dem Herrn entgegen in die Luft und also „allezeit bei dem Herrn sein." Wenn wir dem Herrn begegnen, so werden wir Ihn erkennen, obwohl wir Ihn nie zuvor gesehen haben. Kein Irrtum kann stattfinden, kein anderer in Gottes Gegenwart mit Ihm verwechselt werden. Er wird alle die Seinigen kennen, die an jenem Tage um Ihn versammelt sein werden, und diese werden sich auch untereinander kennen.
Eine grobe Verwirrung des Unglaubens hat jetzt in manchen Gemütern Eingang gefunden, indem man meint, dass man sich, weil irdische Bande und Verhältnisse im Himmel aufhören, droben nicht kennen oder das gegenseitige Interesse nicht fortbestehen werde. Die törichte Verkehrtheit dieses Gedankens liegt auf der Hand. Ich kenne und liebe und werde gekannt und geliebt von vielen, die einst auf Erden meine Herren oder meine Knechte waren. Das Verhältnis hat aufgehört, aber Gott sei Dank, nicht die gegenseitige Liebe und Wertschätzung, welche in demselben in unsern Herzen entstanden. Ein Kind hört auf, ein Kind im elterlichen Hause zu sein, wenn es sich verheiratet; er oder sie ist nach Gottes Ordnung aus dieser Stellung herausgetreten, aber die Liebe und das Interesse dauern fort. Oder wird etwa eine verheiratete Tochter nicht mehr geliebt, weil sie einem andern Hause vorsteht und nicht mehr die Pflicht und Verantwortlichkeit eines Kindes im elterlichen Hause hat? Das frühere Verhältnis des Apostels zu den Thessalonichern mag aufhören, aber nichts seine Liebe zu denselben, noch die ihrige zu ihm, wie sie sich unter ihnen gebildet hatte, als sie noch auf Erden waren. Sie werden in der Herrlichkeit stehen als seine Freude, seine Krone des Ruhms. „Denn wer ist unsere Hoffnung, oder Freude, oder Krone des Ruhmes? Nicht auch ihr vor unserem Herrn Jesu bei seiner Ankunft?" (1. Thess. 2, 19.) Beachtenswert ist auch der Ausdruck: „Wir wollen aber nicht, Brüder, dass ihr, was die Entschlafenen betrifft, unkundig seid, auf dass ihr euch nicht betrübet wie auch die übrigen, die keine Hoffnung haben." (Kap. 4, 13.) Der Zustand derer, welche dies nicht einsehen, ist fleischlich; weil sie mit sich und den Umständen beschäftigt sind, so können sie nicht aufwärts schauen, sich nicht zu der Freude und Gnade des Herrn erheben.
Nur noch eins möchte ich hinzufügen. Es könnte jemand sagen: So wäre also der Tod, Deiner Meinung nach, gar nichts. Darauf möchte ich entgegenen: Keineswegs ; doch der Tod mag sein, was er will, aber Christus ist mehr; Er macht das Dunkle Licht, das Bittere süß. Der, welcher weiß, was es heißt, in Christo zu sein, aber auch nur ein solcher, kann sagen: „In diesem allem sind wir mehr als Überwinder durch den, der uns geliebt hat." Nur ein solcher kann sagen: „Wo ist, o Tod, dein Stachel? wo ist, o Tod, dein Sieg?" Der Tod war im Menschen die Frucht der Sünde; in dem Tode des Leibes zeigte sich auf furchtbare Weise, was die Sünde über den Leib des Menschen gebracht hatte; und er wies zugleich auf den zweiten Tod hin, „wo ihr Wurm nicht stirbt und ihr Feuer nicht verlöscht." Wenn auch der Sohn Gottes als Sohn des Menschen den Schwierigkeiten der Lage, in welcher der Mensch als Sünder war, entgegengekommen ist, indem Er das Gericht, welchem der Mensch verfallen war, auf sich nahm, so durfte Er es dennoch weder moralisch, noch gerichtlich, mit der Sünde leicht nehmen. Im Gegenteil, als Er auf dem Kreuze das Gericht ertrug, da wurde aufs klarste bewiesen, dass der Lohn der Sünde weit schrecklicher ist, als der Mensch es je gedacht hat, als er es je zu ergründen oder auszusprechen vermag. Er musste ausrufen: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?"
Von dem Gericht über die Sünde bleibt nichts übrig, was die Seele eines an Jesus Glaubenden treffen könnte. Sein Gericht war unsere Befreiung; und wenn es unser Teil ist, abzuscheiden und diesen Leib zu verlassen, so kann der Herr sich den Seinigen zeigen, wie Er sich dem Stephanus in der Todesstunde zeigte. Und mag da kommen, was da will, „abzuscheiden," sagte der Apostel, „ist weit besseres heißt „ausheimisch von dem Leibe, einheimisch bei dem Herrn sein." Es ist nicht befremdend, sondern gesegnet, bezüglich der Erfahrung, soweit es für einen erlösten Jünger möglich ist, unserm Herrn in irgendeinem Teil Seiner Laufbahn hienieden ähnlich gemacht zu werden. Wir glauben nun, dass Jesus sowohl gestorben als auch auferstanden ist. Wenn ich Seinen Tod in Verbindung mit dem Ertragen des von mir verdienten Zornes betrachte, so weiß ich, dass er vorüber ist, und der Glaube in mir verwirft den Gedanken, dass ich ihn je schmecken werde; in diesem Sinne werde ich nie den Tod schmecken.