(1. Petr. 5, 12.)
Gott ist uns kund gemacht worden als der „Gott aller Gnade" (1. Petr. 5, 10), und die Stellung, in welche die Seinigen gebracht worden, ist die, zu schmecken „dass Er gütig ist." Es fällt uns so schwer zu glauben, dass der Herr gütig ist. Das natürliche Gefühl unserer Herzen ist: „Ich weiß, dass Du ein harter Mann bist"; einem jeden von uns fehlt von Natur das Verständnis von der Gnade Gottes.
Man begegnet zuweilen dem Gedanken, als bedeute die Gnade ein Übersehen der Sünden von Seiten Gottes. Das ist aber nicht so; vielmehr zeigt gerade die Gnade, dass die Sünde eine so schrecklich schlechte Sache sei, dass Gott sie nicht dulden könne: wenn es in der Macht des Menschen stände, seine bösen Wege zu übertünchen und sich selbst zu bessern, so dass er vor Gott bestehen könnte, dann wäre die Gnade nicht nötig. Gerade die Tatsache, dass der Herr Gnade erweist, stellt die Sünde als etwas so Böses hin, und den Menschen in seinem sündigen Zustande so gänzlich und hoffnungslos verderbt, dass nichts als die freie Gnade ihm helfen und seinem Bedürfnis entsprechen kann.
Was Gott für uns ist, können, wir nicht mittelst unserer eignen Gedanken lernen, sondern mittelst dessen, was Er von sich geoffenbart hat: nämlich, dass Er „der Gott aller Gnade" ist. Sobald ich verstehe, dass ich ein sündiger Mensch bin und dass der Herr, weil Er die ganze Größe und Hassenswürdigkeit meiner Sünde kannte, zu mir kam, verstehe ich auch, was die Gnade ist. Der Glaube zeigt mir, dass Gott größer ist als meine Sünde, und nicht meine Sünde größer als Gott. Der Herr, den ich als denjenigen kennen gelernt habe, der Sein lieben für mich dahingegeben, ist derselbe Herr, mit dem ich jeden Tag meines Lebens zu tun habe, und all Seine Wege mit mir beruhen auf derselben Gnade. Die Quelle des Wachstums besteht in dem Aufschauen zu dem gnadenvollen Herrn. Wie köstlich, wie stärkend ist es, zu wissen, dass Jesus in diesem Augenblick gerade so für mich fühlt und mich gerade so liebt, als da Er am Kreuze für mich starb.
Das ist eine Wahrheit, die wir uns in den gewöhnlichsten Umständen des täglichen Lebens zu Nutze machen sollten. Wenn ich eine böse Neigung bei mir finde, die zu überwinden mir schwer füllt, so sollt ich damit zu Jesu als zu meinem Freunde gehen, und ich werde aus Ihm die Kraft empfangen, deren ich bedarf. Stets sollte so der Glaube gegen die Versuchung in Anwendung kommen, und nicht nur meine eigene Anstrengung tätig sein, denn dieselbe wird nie ausreichen. Die Quelle wirklicher Kraft liegt in dem Bewusstsein, dass der Herr voll Gnade ist. Der natürliche Mensch in uns glaubt nie, dass Christus die einzige Quelle der Kraft und jeder Segnung ist. Wenn ich die Gemeinschaft mit Gott verloren habe, so sagt das natürliche Herz: Ich muss die Ursache hievon aufzuheben suchen, ehe ich zu Christus kommen kann. Doch nein. Er ist voll Gnade. Weil ich dieses weiß, soll ich alsbald, gerade so wie ich bin, zu Ihm Zurückkehren und mich tief vor Ihm demütigen. Nur in Ihm und bei Ihm werden wir das finden, was unsere Seele herstellen kann. Beugung in Seiner Gegenwart ist die einzige wahre Beugung. Wenn wir unseren Platz in Seiner Gegenwart einnehmen als das was wir sind, so werden wir die Erfahrung machen, dass Er uns nichts als Gnade erweist.
Jesus ist es, der unseren Seelen bleibende Ruhe gibt, und nicht das, was wir über uns selbst denken. Nie betrachtet der Glaube das, was in uns ist, als Grund seiner Ruhe. Er empfängt, liebt und erfasset, was Gott geoffenbart hat und was Gottes Gedanken über Jesus sind, in welchen: Er selbst Seine Ruhe findet. Juden: Jesus unseren Seelen kostbar ist und unsere Augen und Herzen mit Ihn: beschäftigt sind, werden wir vor der Eitelkeit und Sünde um uns her bewahrt und zugleich auch gewappnet gegen die Sünde und die Verdorbenheit unserer eigenen Herzen. Was irgend ich in mir sehe und nicht in Ihm finde, das ist Sünde; doch werde ich nicht so sehr dadurch gedemütigt, dass ich an meine Sünden und an meine Verdorbenheit denke, als vielmehr dadurch, dass ich mit dem Herrn Jesu und mit Seiner Vortrefflichkeit beschäftigt bin. Es ist gut, sich selbst zu vergessen, mit sich selbst fertig und von Jesu eingenommen zu sein.
Nichts fällt unseren Herzen so schwer, als in dem Bewusstsein der Gnade zu bleiben, praktischer Weise in dem Bewusstsein zu verharren, dass wir nicht unter Gesetz, sondern unter der Gnade sind (Röm. 6, 14); durch die Gnade wird das Herz „befestigt" (vergl. Hebr. 13). Allein es ist für uns nichts schwieriger, als die Fülle der Gnade wirklich zu erfassen, diese „Gnade Gottes, in welcher wir stehen" (Röm. 5, 2), und in der Kraft derselben zu wandeln. Nur in der Gegenwart Gottes können wir dieselbe kennen, und dort zu verweilen ist unser Vorrecht. Sobald wir nicht in der Gegenwart Gottes stehen, werden gewissermaßen unsre eigenen Gedanken tätig sein; aber dieselben können sich nie zu der Höhe der Gedanken Gottes über uns, nämlich zu der „Gnade Gottes" erheben.
Nur wenn wir in Gemeinschaft mit Ihm sind, vermögen wir alles nach Seiner Gnade zu beurteilen, nur dann vermag uns nichts, und sei es was es wolle, zu erschüttern, selbst nicht der Zustand der Versammlung Gottes, denn wir rechnen aus Gott. Und wenn wir dies tun, so erscheint uns alles wieder nur als eine Gelegenheit und ein Schauplatz zur Entfaltung Seiner Gnade.
Recht einfachen Glauben an dieselbe zu haben, ist die wahre Bedingung unsrer Kraft als Christen, und im Bewusstsein der Gnade in der Gegenwart Gottes zu verharren, ist das Geheimnis der Heiligkeit, des Friedens und der Ruhe des Geistes.
Die Gnade Gottes ist so unbegrenzt, so weit, so vollkommen, dass wenn wir uns einen Augenblick aus der Gegenwart Gottes verlieren, wir keine richtigen Gefühle über dieselbe haben können; es fehlt uns die Kraft, sie zu erfassen; und wenn wir versuchten, sie außerhalb der Gegenwart Gottes kennen zu lernen, so würden wir sic „zur Ausschweifung verkehren" (Jud. 4). Wenn wir die Gnade als solche ins Auge fassen, so hat sie keine Grenzen, kein Ende. Wir mögen sein, was wir wollen (und schlechter, als wir sind, können wir nicht sein), so ist Gott trotz alledem uns gegenüber Liebe.
Die Gnade setzt all das Böse und die Sünde, die in uns ist, voraus, und ist zugleich die beseligende Offenbarung, dass all diese Sünde und dieses Böse durch Jesus weggetan worden sind. Eine einzige Sünde ist in den Augen Gottes schrecklicher als tausend Sünden, ja alle Sünden der Welt in unseren Augen sind; und doch hat es Gott, trotz Seiner völligen Kenntnis dem, was wir sind, Wohlgefallen, nur Liebe gegen uns zu sein.
Der in Röm. 7 beschriebene Zustand ist der eines wiedergeborenen Menschen, dessen Gedanken sich jedoch noch um ihn selbst drehen. Er erfasst noch nicht die Gnade, die einfache Tatsache, dass, welches auch sein Zustand sei und wie schlecht er mich sein möge, Gott Liebe und nur Liede ihn: gegenüber ist. Anstatt aus Gott zu blicken, heißt es immer: „Ich" „ich." Der Glaube blickt zu Gott hin, sowie Er sich selbst in Gnade geoffenbart hat. — Ich möchte fragen: Bin ich oder ist mein Zustand der Gegenstand für den Glauben? Nein, nie hat der Glaube das zum Gegenstand, was in meinem Herzen ist, sondern die Offenbarung Gottes selbst in Gnade. Die Gnade bezieht sich auf das, was Gott ist und nicht auf das, was wir sind, es sei denn, dass gerade die Größe unsrer Sünden die Größe der Gnade Gottes verherrlicht: zugleich sollen wir uns aber erinnern, dass es der Zweck und die notwendige Wirkung der Gnade ist, unsere Seelen in Gemeinschaft mit Gott zu bringen, uns zu heiligen, indem sie die Seele lehrt, Gott zu kennen und Ihn zu lieben. Deshalb ist die Erkenntnis der Gnade die wahre Quelle der Heiligung.
Der Triumph der Gnade wird darin gesehen, dass, als des Menschen Feindschaft Jesus von der Erde verworfen hatte, Gottes Liebe durch eben diese Handlung das Heil bewirkte und tätig war, um für die Sünden derer, die Ihn verworfen hatten, Versöhnung zu tun. Angesichts der größten Entfaltung der Sünde des Menschen sieht der Glaube die völligste Entfaltung der Gnade Gottes.
Ich habe mich von der Gnade entfernt, wenn ich hinsichtlich der Liebe Gottes dem leisesten Zweifel Raum gebe. Ich sage dann: Es macht mich unglücklich, dass ich nicht das bin, was ich gerne wäre. Aber darum handelt es sich in dieser Beziehung nicht. Die Frage ist, ob Gott so sei, wie wir Ihn haben müssen, ob Jesus alles ist, was wir wünschen könnten. Wenn das Bewusstsein von dem, was wir sind und in uns finden, so tief es uns auch demütigt, eine andere Wirkung auf uns hat, als dass es Anbetung für das, was Gott ist, in uns vermehrt, so stehen wir nicht auf dem Boden der reinen Gnade. Ist Jammer und Missmut in deinem Gemüt? Dann untersuche wohl, ob du nicht noch sagst: „Ich" „ich", und die Gnade Gottes außer Acht lässest.
Es ist besser, das zu betrachten, was Gott ist, als das, was wir sind. Dieses uns selbst Betrachten ist im Grunde Stolz, ein Mangel an dem alles durchdringenden Bewusstsein, dass wir zu nichts nütze sind. Bis wir dieses haben, blicken wir nie ganz von uns weg aus Gott. — Wenn wir Christus betrachten, ist es unser Vorrecht, uns selbst zu vergessen. Die wahre Demut besteht nicht sowohl darin, schlecht von sich zu denken, als vielmehr gar nicht an sich zu denken. Ich bin zu schlecht, als dass über mich gedacht werden sollte. Was mir Not tut, ist, mich selbst zu vergessen und auf Gott zu blicken, der in der Tat würdig ist, der Mittelpunkt all meiner Gedanken zu sein, und es ist dies auch das beste Mittel zur Demütigung unsrer selbst.
Geliebte, wenn wir mit Röm. 7 sagen können: „In mir, das ist in meinem Fleische, wohnt nichts Gutes", dann haben wir lange genug über uns selbst nachgedacht, dann lasset uns Den betrachten, der Gedanken des Guten und nicht des Bösen über uns gehabt hat, lange bevor wir an uns selbst denken konnten. Betrachten wir Seine Gnadengedanken gegen uns und sprechen wir mit Röm. 8 die Worte des Glaubens:
„Wenn Gott für uns, wer gegen uns?"