Joh 10.
Je mehr wir uns in das Wesen und den Wandel des Herrn Jesu vertiefen, desto mehr finden wir in Ihm eine Schönheit und Vortrefflichkeit, welche unergründlich sind. Welche Gegensätze begegnen sich hier in Seiner Person! Welche Kraft und dennoch welche Unterwürfigkeit! Welche Höhen moralischer Herrlichkeit und welche Tiefen der Erniedrigung! Er stellt sich als den Sohn Gottes dar, aber Er geht hinein zur Türe, und der Türhüter tut Ihm auf.
Die Person des Herrn Jesu wird immer Speise für unsre Seelen sein, wenn wir uns in sie versenken. Wenn wir auch dadurch gedemütigt werden, so stärkt uns andrerseits wieder das Bewusstsein, dass Er alles, was Er ist, für uns ist. Das Herz freut sich in Ihm; es fühlt, dass Er ihm ganz angehört, aber dass es Ihn bewundern und anbeten kann.
Zur Zeit, als die Worte unsers Kapitels ausgesprochen wurden, war Israel vom Herrn schon völlig auf die Probe gestellt worden. Kap. 8 und 9 zeigen uns, wie gänzlich Er von Seinem Volke verworfen wurde, zuerst in Seinen Worten, dann in Seinen Werken. Das erste Resultat Seines Kommens also ist, dass die Seinigen (nach Joh. 1,11) Ihn hinauswerfen, so dass der Herr sagen muss: „Ich bin zum Gericht in diese Welt gekommen," weil durch die Behandlung, die sie Ihm gegenfahren ließen, ihre Schuld erfüllt wurde. „Wenn ihr blind wäret, so hättet ihr keine Sünde, nun ihr aber sprechet: wir sehen, so bleibt denn eure Sünde." Dennoch, so scheint Er im weitern sagen zu wollen, ist meine Arbeit nicht vergeblich. Er war auf die rechte Weise, auf dem vorgeschriebenen Weg „durch die Tür" gekommen. Gott würde dies anerkennen und Ihn rechtfertigen, obwohl Er jetzt verworfen war und der Zweck Seines Kommens verfehlt schien. Alle Seine Schafe konnten zu Ihm kommen, und Er konnte in Wahrheit sagen: „Vergeblich habe ich mich bemüht, unnütz und umsonst meine Kraft verzehrt; wahrlich, mein Recht ist bei Jehova und mein Werk bei meinem Gott" (Jes. 49, 4). Wenn Er, als König anerkannt, in Herrlichkeit und Macht Seinen Platz eingenommen hätte, so wären viele Ihm nachgefolgt; nun aber, da Er niedrig und verachtet war, zeigte es sich, wer wirklich nach Ihm verlangte, und alle diese hingen Ihm auch von Herzen an.
„Wer nicht durch die Tür in den Hof der Schafe einght, sondern anderswo herübersteigt, ist ein Dieb und ein Räuber." Alle diese vorgeblichen Gesalbten (und es hatte deren viele gegeben), welche sich dem Volke als etwas Großes dargestellt hatten, waren nichts Besseres gewesen als „Diebe und Räuber." Wir sehen hier sofort, wer es ist, der durch die Türe zu den Schafen eingeht, und das erste, das wir bei Ihm finden, ist völlige Unterwürfigkeit. Und beachten wir, dass dies, wie in erster Linie von dem Hirten, so auch von allen wahr ist, welche dem Hirten nachfolgen. Alle Kraft und auch aller wirklich nützliche Dienst hat seine Quelle in völliger Unterwürfigkeit.
Eine gänzliche Verwerfung war das Teil Jesu, wie Er denn auch klagt: „Hunde haben mich umgeben," und wiederum: „Wie Wachs ist zerschmolzen mein Gebein" (Psalm 22). Wie schmerzlich musste es für Ihn sein, dass man Ihm so begegnete, dass es fast bei jedem Schritt finsterer um Ihn wurde, bis Sein Weg Ihn endlich stracks dem Tode entgegenführte. Aber nichts hielt Ihn auf. Er ging durch alles hindurch. Er ging ein durch die Türe des vollkommenen Gehorsams. Und nun gibt es auch nicht ein Schaf, welches von Seiner Stimme nicht erreicht werden kann. Er begegnet den Seelen gerade da, wo sie Seiner bedürfen. Er ging durch die Türe hinein als der wahre Hirte, nicht Israels freilich, das Ihn als Volk verwarf, sondern als der „Hirte der Schafe," nämlich aller derer, deren Herzen und Gewissen berührt waren. Aber Er gebraucht Seine Macht nicht, um sie für sich selbst in Besitz zu nehmen, nein Er handelt auch in dieser Beziehung in völliger Abhängigkeit von Gott, gerade wie Er, als Lazarus gestorben war, nicht handelte, bis Sein Vater es Ihn hieß. Er nahm Knechtsgestalt an und wandelte in dieser Stellung in Abhängigkeit und Gehorsam.
„Diesem tut der Türhüter auf." „Siehe, ich habe vor dir gegeben eine geöffnete Türe, die niemand zu schließen vermag" (Offenb. 3). Sein Pfad war ein Pfad völliger Erniedrigung, wodurch Seine Vollkommenheit als Mensch besonders hervorstrahlte. Wenn Gott, Sein Vater, Ihm Leiden nicht ersparen konnte, so öffnete Er Ihm die Türe. Er kam tatsächlich, und die Schafe hörten Seine Stimme. Mochten auch die Böcke Ihn mit Füßen treten, dies hinderte ihn nicht. Er ging den Schafen nach, und die Schafe wissen, dass Er für sie sorgt, weil sie Ihm am Herzen liegen. Warum hätte Er sonst, Er der Sohn Gottes, alle die Verachtung ertragen, mit der Seine Worte und Werke überschüttet wurden? Um der Schafe willen ertrug Er den Mutwillen der Böcke, unter denen Er sic suchen musste.
Er ist auch wiederum vollkommen fähig, sie zu befreien. Er will sie nicht im Hofe lassen, nein, Er „führt sie aus." Er zieht ihre Herzen zu sich hin, gibt sich ihnen zu erkennen und nimmt ihre Sicherheit und Befreiung auf sich. „Und wenn Er Seine eigenen Schafe ausgelassen hat, so geht Er vor Ihnen her." Wie, sind nun keine Gefahren und Schwierigkeiten auf ihrem Wege? War Israel, nachdem es aus Ägypten und durchs Rote Meer gebracht worden war, in keiner Gefahr mehr, sich zu verirren? Freilich, aber sie hatten die Wolke zu ihrer Führung. Und drohte ihnen auf dem Wege keine Gefahr von Feinden? Gewiss, aber der Herr der Heerschaaren war mit ihnen. Und so ist es jetzt mit Seinen Schafen. Er lässt sie aus, aber Er verlässt sie nicht. Er geht vor ihnen her und die Schafe folgen Ihm. Seht, welche Sicherheit und Gewissheit dies uns für den Weg gibt.
Die Menschen können diese oder jene Ansicht über eine Sache haben, wenn ich aber die Stimme Christi in Bezug darauf kenne, so ist dies genug. „Lasset uns hinausgehen zu Ihm, außerhalb des Lagers" (Hebr. 13, 13). Die Schafe kennen die Stimme Christi und warten auf sie. So viele andere Stimmen es auch gibt, so kennen sie doch keine außer der Seinigen. Schafe sind dumme, einfältige Geschöpfe, aber sie kennen des Hirten Stimme, diese eine Stimme nur. Sobald wir Christi Stimme vernehmen, so ist dies uns genug, so gibt dies uns Friede und Ruhe auf unserm Weg, wie weder große Weisheit, noch große Kraft, noch irgend etwas anderes sie geben können. „Einem Fremden aber werden sie nicht folgen, sondern werden vor ihm fliehen." Der Hirte erschreckt die Schafe nicht, Er gibt Kraft und Vertrauen, und wenn das Herz einmal Seine Stimme gehört hat, so braucht es nichts anderes. Dafür aber muss das Auge einfältig sein. Ist es nicht einfach auf Ihn gerichtet, so ist man „unstet in allen seinen Wegen," nicht nur in einigen, sondern in allen.
Und wie der Herr für sich selbst auf dem Ihm angewiesenen Wege kam, so ist Er auch die Türe, der Eingang zu dem Weg des Lebens für einen jeden. Durch Ihn können wir ein- und ausgehen und genießen Frieden und Segen. Was die Schafe kennzeichnet, ist, dass Christus ihre Türe ist. Beachten wir, dass es heißt: „Wenn jemand durch mich eingeht, der wird errettet werden." Es heißt nicht: „Wer mir gut nachfolgt," sondern: „Wer durch mich eingeht". Die Stimme des guten Hirten muss in Wahrheit gehört werden, und ein jeder, der eingeht, ist errettet, ja er kann nicht eingehen, ohne errettet zu sein. Dann gilt es allerdings, den vor uns liegenden Pfad zu verfolgen, aber dies ist das Resultat des Errettet- seins. Wir werden ihn oftmals schwierig genug finden, denn wir haben Satan, die Welt und das Fleisch gegen uns; aber wir gehen aus und ein durch die Türe. Wir genießen Freiheit des Herzens und können ausgehen in die Welt, um von Christus zu zeugen, weil unsere Seelen in Seiner sicheren Obhut sind. Bei Ihm auch finden die Schafe ihre Weide, genießen alle die Wahrheit des Wortes Gottes. Ihr Teil ist vollkommen Sicherheit: „Niemand kann sie aus meines Bakers Hand reißen." Ihr Teil ist Freiheit: „sie gehen ein und aus," und haben alle die Nahrung, die Gott ihnen geben kann. „Sie finden Weide," was mehr könnten sie wünschen? Die Herrlichkeit wird ja hernach ihr Teil sein.
Dann zeigt Er den Unterschied zwischen sich selbst und all den falschen Lehrern, welche vor Ihm gekommen waren, und sagt von sich: „Ich bin gekommen, auf dass sie das Leben haben" (V. k0). Nicht zufrieden, ihnen Leben zu geben, sollten sie es selbst „im Überfluss" haben, wie wir auch in Röm. 5 lesen, dass die, „welche die Überschwänglichkeit der Gnade und der freien Gabe der Gerechtigkeit empfangen, im Leben herrschen werden durch Jesus Christus." Hier unten dienen wir im Leben, dort werden wir herrschen im Leben. Welche Freiheit, welchen Überfluss gibt es uns, wenn wir erkennen, dass Er selbst unser Leben ist.
Er war entschlossen, koste es was es wolle, uns zu erretten. „Der gute Hirte lässt Sein Leben für die Schafe." Es ist als ob Er sagen wollte: Ich gebe mich ganz euch hin, und ich bin entschlossen, euch aus dem Elend heraus zu bringen, in welchem ihr seid, koste es auch, was es wolle. „Ich bin der gute Hirte... und ich lasse mein Leben für die Schafe." Auf diese Weise hat Er Seinen Schafen Leben gegeben, und sie sollen nun auch alles haben, was sie in diesem Leben brauchen. (Wie verschieden von all diesem sind die Mietlinge.) Man könnte denken, dass, wenn Er Sein Leben für sie gab, Er nun doch sicher nicht noch mehr tun könne. Allein so ist es nicht bei Ihm. „Ich kenne die Meinen, sagt Er in B. 14, und bin gekannt von den Meinen." Nicht nur sorgt Er für Seine Herde als Ganzes, nein jedes einzelne Schaf genießt Seine Pflege — „ich bin gekannt von den Meinen." Paulus erkannte, dass Christus die Versammlung geliebt und sich selbst für sie dahingegeben hat (Eph. 5, 20); er erkannte aber auch, dass Er ihn persönlich geliebt und sich für ihn dahingegeben hat (Gal. 2, 20). Und ein ebenso wahres Verhältnis der Liebe, wie es zwischen dem Vater und dem Sohne besteht, besteht nun zwischen Christus und einem jeden Seiner Schafe (V. 15). Ferner: „Es wird eine Herde und ein Hirte sein." Juden und Heiden sollten zusammen auf den gemeinsamen Boden der Versammlung Gottes gebracht werden.
„Darum liebt mich der Vater," sagt Er weiter, „weil ich mein Leben lasse, auf dass ich es wieder nehme." Dies lässt uns einen Blick tun in den wunderbaren Wert dieses Werkes, welches so kostbar ist, dass es einen Beweggrund der Liebe des Vaters bildet. So tief Er sich aber auch erniedrigen mochte, selbst bis zum Niederlegen Seines Lebens, so konnte Er es doch wieder nehmen. Er hatte, obschon Er in der Stellung des Gehorsams war, die Macht und Berechtigung, dies zu tun, denn, sagte Er, „dieses Gebot habe ich von meinem Vater empfangen." Er hatte die Macht dazu, aber Er übte sie aus als der gehorsame, abhängige Diener.
In V. 24 ff. sehen wir, wie verschieden von den Schafen Jesu die Pharisiäer Seine Worte hörten und aufnahmen. Der Unterschied zwischen den Schafen des Herrn und denen, die nicht Seine Schafe sind, besteht darin, dass bei den ersteren die Stimme Christi im Herzen zu einer Macht wird, bei den letztem nicht.
Etwas weiter wird uns die völlige Sicherheit und auch die Tragweite der Segnungen gezeigt, welche sie durch des Hirten Stellung und Macht haben. „Ich gebe ihnen ewiges Leben." Es ist ein Leben, welches nicht wieder weggenommen werden kann, und das ein jeder hat, welcher Christi Stimme hört. Es muss ewig sein, dieses Leben, welches Christus gibt, denn es ist Sein eigenes Leben, und ehe eines Seiner Schafe umkäme, müsste Christus selber umkommen. Es muss aber auch heilig sein aus dem gleichen Grund, weil es von Ihm, dem Heiligen kommt. „Sie gehen nicht verloren ewiglich." Wir mögen entschlafen oder verwandelt werden, aber das gleiche Leben, das wir jetzt in Ihm und mit Ihm haben, werden wir auch einst bei Seinem Kommen haben. Diese herrliche Sicherheit beruht auf zwei Dingen. Erstens wohnt Christus als ihr Leben in den Seinigen; zweitens hat Er verheißen: „Niemand wird sie aus meiner Hand rauben." Sie sind in Seiner Hand. Der Vater hat sie ihm gegeben, auf dass Er sie sicher durchbringe, und der Sohn hat Macht genug, dies völlig zu tun. Nur jemand,' der mächtiger wäre als Gott, könnte uns Seiner Hand entreißen. Der Vater sandte den Sohn und der Sohn hat uns den Heiligen Geist gesandt, so dass alle drei an dem Werk unserer Erlösung beteiligt sind.
Wie können wir aber wissen, welches die Schafe sind? Diese sind es, die Seine Stimme hören. Welch ein Gedanke, dass Er, als der Hirte, auf dem ganzen Wege sic führt und vor ihnen hergeht. Das Hören der Stimme Christi ist das unterscheidende Merkmal des Christen, mag es auch mit ihm durch Trübsal und Prüfungen und Schwierigkeiten gehen. Christi Stimme hat absolute Autorität und Macht über ihn.
Wie wunderbar, dass Er sich soweit herabgelassen hat, uns Seine Stimme hören zu lassen, und wie kostbar, hier zu lernen, dass Jesus und der Vater eins sind; dass die Herrlichkeit des Sohnes mit der Sicherheit der Schafe in Verbindung steht, als Schutz sowohl gegen ihre eigene Schwachheit als auch gegen Schaden von außen, dass sie aber ebensowohl auch in Verbindung steht mit der Höhe und Tiefe der Liebe, deren Gegenstände sie sind. Der Vater und der Sohn sind eins, sowohl in ihrem göttlichen Wesen, als auch in ihrer errettenden bewahrenden Liebe für die Schafe.